Die Inschrift am Baldachin des Chorgestühls informiert, dass Meister Marquard Zehentner aus Reichenhall vom damaligen Propst Johann Praun mit dem Bau dieses Chorgestühls beauftragt worden war. Die Herstellung des beachtlichen Werkes in Eichenholz mit den flächendeckenden Schnitzereien beanspruchte also sieben Jahre und erforderte eine erhebliche Menge an Material.
Dass der Meister seinerzeit einen Vorrat an trockenem Eichenholz von dem benötigten Umfang auf Lager hatte, ist eher unwahrscheinlich. Also mussten die spät im Jahr bei abnehmendem Mond gefällten Stämme in die für den Bau des Gestühls erforderlichen Teile zunächst gespalten beziehungsweise zurecht-gesägt werden. Dann mussten sie ungefähr zwei bis drei Jahre so weit austrocknen, bis sie in langwieriger, mühevoller Handarbeit weiterverarbeitet werden konnten. Zahlreiche im Gestühl eingearbeitete, unverleimte Hölzer von gut 60 Zentimetern Breite lassen auf einen teilweise beachtlichen Durchmesser der Rundhölzer von 80 bis 100 Zentimetern schließen.
Fertigung ausschließlich in Handarbeit
Die gesamte Fertigung erfolgte ausschließlich in Handarbeit, wie zu dieser Zeit nicht anders möglich, Nicht ganz auszuschließen wäre allerdings auch, dass beim Zuschnitt der Einzelteile, also Bretter und Kanthölzer in verschiedenen Stärken, bereits eine mechanische Säge, also ein Sägewerk, eine Sägemühle zum Einsatz kam.
Ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts werden Sägemühlen erstmals urkundlich erwähnt. Um nun ein Werk in dieser Größenordnung zu erstellen, brauchte Marquard Zehentner eine entsprechend geräumige Werkstätte. Was war nun dieser Meister Zehentner genau von Beruf? War er schon Schreiner oder noch Zimmermann? Höchstwahrscheinlich verfügte er über beide Kompetenzen und war außerdem ein kunstfertiger Schnitzer.
Zu Anfang des 15. Jahrhunderts, so berichten die Quellen, bildete sich der Schreiner als eigene Sparte durch Abtrennung vom Zimmererhandwerk heraus.
Was waren die Gründe dafür? Die Aufträge vonseiten der Kirche, des Adels und eines wohlhabenden Bürgertums wurden zunehmend anspruchsvoller, deren gehobenen Bedürfnissen entsprechend. Dies erforderte deutlich umfangreichere handwerkliche Fertigkeiten für immer differenziertere Funktionen im Möbelbau. Der Meister war durchaus in der Lage, die Ansprüche der Stiftsherren zu erfüllen. Sein Werk spiegelt seine respektable Kunstfertigkeit in allen Facetten wider.
Natürliche Lichtverhältnisse
Ohne eine tüchtige Helferschar an Gesellen und Lehrbuben hätte Marquard Zehentner einen solch umfangreichen Auftrag nicht ausführen können. Es musste entsprechend der natürlichen Lichtverhältnisse gearbeitet werden, das hieß lange Arbeitstage im Sommer, kurze im Winter. Offenes Licht kam aus verständlichen Gründen nicht infrage. Als alle Teile von Schreinerseite im Wesentlichen fertiggestellt waren, machten sich Schnitzer beziehungsweise Bildhauer ans Werk. Vorderfronten, Füllungen, Rückwände, das Gesprenge am Baldachin et cetera sind reich mit Maßwerkornamentik dekoriert. Sicherlich waren mehrere Schnitzer unter wesentlicher Mitarbeit des Meisters über Monate beschäftigt. Als die Werkstattarbeit beendet war, warteten einige Hundert Teile, an ihren Bestimmungsort geliefert zu werden. Auf steiler, holpriger Straße ging es mit Pferde- oder vielleicht sogar Ochsenfuhrwerk über den Hallthurm, durch die Bischofswies, den Tanzbichl hinauf, entlang der alten Reichenhaller Straße (den Weg über die Stanggaß gab es noch längst nicht), den Doktorberg hinunter, um endlich zur Stiftskirche zu gelangen.
Der Auf- und Zusammenbau im gerade erst 140 Jahre alten Chor des Münsters könnte Wochen, wenn nicht gar Monate gedauert haben. Dabei dürfte der Chorraum eher einer großen Werkstätte als einem Ehrfurcht gebietenden Sakralraum geglichen haben. In das neue Chorgestühl wurden jetzt sechs Wangen und Trennwände des alten Vorgängergestühls mit eingebaut. Dabei handelt es sich um gitterartig durchbrochene, mit schwer zu enträtselnder Tiersymbolik gearbeitete Schnitzwerke aus der Zeit um 1320 bis 1350.
Kopien vonHofbildhauer Zechmeister
Diese besonders wertvollen Teile waren anlässlich einer Renovierung um 1900 ausgebaut und als desolat, vermorscht und nicht reparaturfähig erklärt worden, um diese anschließend für 600 Mark an das Nationalmuseum in München zu verkaufen.
Als Ersatz wurden 1903 Kopien von Hofbildhauer Stephan Zechmeister angebracht. Damals wurden auch fast der gesamte Baldachin und Teile des Gesprenges erneuert. Unter dem Baldachin befinden sich auf beiden Seiten insgesamt 31 Sitze, in der Fachsprache auch Stallen genannt. Das Stiftskapitel umfasste aber zu jener Zeit 12 bis maximal 15 Kleriker. So war also noch genügend Platz für zahlreiche Laienbrüder, sogenannte Konversen, von denen uns die Quellen berichten. Sie entstammten ebenso wie die Chorherren adeligen Familien und nahmen am gemeinsamen Chorgebet teil. Über deren genaue Anzahl allerdings sind keine Angaben zu finden. Dass bei der Planung des Chorgestühls mit so vielen Sitzplätzen damals auch ein ausgeprägtes Repräsentationsbedürfnis ausschlaggebend war, ist naheliegend. Von Laienbrüdern gibt es aus späterer Zeit keine Berichte mehr, demnach musste deren Part von weltlichem Personal übernommen worden sein. Doch war dies bestimmt kein Grund, die nun freien Plätze unbesetzt zu lassen. Hofbeamte des Stiftes oder adlige Gäste dürften sich bei feierlichen Anlässen dort nicht ungern platziert haben. Heutzutage sind die sogenannten Kapitelstände, wie sie im lokalen Sprachgebrauch heißen, keinem exklusiven Personenkreis mehr vorbehalten und können von allen Kirchenbesuchern genutzt werden.
Zum Glück ist das Chorgestühl bis heute so gut erhalten geblieben beziehungsweise worden, nicht zuletzt dank wiederholter, wenn auch nicht immer ganz sachgerechter Instandsetzungen. So sorgten Anstriche letztlich für eine düstere, fast schwarze Oberfläche.
Das gegenwärtige Erscheinungsbild in einem helleren Ton des gealterten Eichenholzes erzielte man durch Abnahme der Farbschichten anlässlich der Kirchenrenovierung in den Sechzigerjahren. Damals wurde vom Denkmalamt auch eine Neubemalung der Wangen und Trennwände nach dem Muster der Originale im Nationalmuseum vorgeschlagen. Mit dieser Farbfassung in teils kräftigen Farbakzenten hätte man sich dem originalen Eindruck deutlich angenähert. Leider ist das unterblieben, könnte aber bei entsprechendem Interesse problemlos realisiert werden und ergäbe eine nicht zu unterschätzende optische Aufwertung des Ensembles.
Friedrich Schelle