Blickt man vom Eingang rüber zur Baustelle, erkennt man den Fortschritt, der da am und im Berg passiert: Mittlerweile ziert eine breite Glasfront das zunächst unscheinbar wirkende Bauwerk, dessen wahres Ausmaß im Hügel dahinter verborgen liegt. »Die vergangenen Jahre waren manchmal nicht einfach, vor allem das letzte«, sagt Irlinger, der Geschichte und Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der University of Exeter studiert hat, und nun eines der drei Gesichter der Geschichtsvermittler am Obersalzberg ist.
Besucherzahlen übertrafen alle Erwartungen
170.000 – das war die Zahl, an der man sich immer orientierte, nachdem der Lern- und Erinnerungsort vor 22 Jahren eröffnet worden war und stetig steigende Besucherzahlen verbuchte. Die einst ausgerufene Zielmarke von 40.000 Besuchern, für die die Dokumentation konzipiert war, war um das Vierfache überschritten, und das Jahr für Jahr. Seit Corona sind die Zahlen wegen der Schließung gesunken. Nur fünf Monate konnte im vergangenen Jahr geöffnet werden: Das reichte für etwas mehr als 50.000 Besucher.
Die Frage ist nun: Wie gut besucht wird die neue, deutlich größere Ausstellung? Intern gibt es viele Mutmaßungen, offiziell bleibt man vorsichtig, spricht von 200.000 bis 250.000 Besuchern pro Jahr. »Wir wissen es einfach noch nicht«, sagt Irlinger.
Wenn frühestens Ende 2022 oder Anfang 2023 eröffnet wird, geht man von einem Boom-Jahr aus, sagt Katrin Wabro, die Kunstgeschichte studiert hat. Im ersten Jahr könne man von einem erhöhten Interesse ausgehen. Zuständig für die inhaltliche Neugestaltung ist das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ), das bereits die erste Dauerausstellung konzipiert hatte und die Einrichtung im Auftrag des Freistaats Bayern wissenschaftlich betreut. Das Team der fachlichen Leitung im IfZ hat für die neue Ausstellung unter dem Leitmotiv »Idyll und Verbrechen« ein Konzept entwickelt, das mit mehr als 350 Exponaten und zahlreichen multimedialen Elementen die Geschichte des Obersalzbergs neu vermittelt.
Irlinger, Wabro und Zangerl waren in den vergangenen Monaten nicht untätig. Meist im Homeoffice, verlagerte sich die Bildungsarbeit weg vom Besucher in den digitalen Raum. Für den arabischen Raum entstand ein Video. Mittlerweile wurde es über 500.000-fach geklickt. »Wir denken oft auch in Serien«”, sagt Wabro und meint damit Themen, die in mehreren Teilen abgehandelt und auf verschiedenen Kanälen gespielt werden.
Die Bildungsreferenten haben sich etwa dem Berchtesgadener Friedhof angenommen und erzählen die Geschichten dort begrabener Personen aus dem Nationalsozialismus, von Bergsportler Toni Lenz etwa, Zwangsarbeitern, Euthanasieopfern oder Displaced Persons (DP). Als »DP« wurden Zivilpersonen bezeichnet, die sich kriegsbedingt außerhalb ihres Heimatstaats aufhielten und ohne Hilfe nicht zurückkehren oder sich in einem anderen Land ansiedeln konnten.
»Die Recherche erfordert viel Arbeit«, sagt Irlinger, der im Berchtesgadener Talkessel aufwuchs, dissertierte, vor einigen Jahren in die Heimat zurückkehrte. Auf vielen Gräbern am Alten Friedhof fänden sich kyrillische Inschriften. Mit Hilfe von Totenbüchern und den Arolsen Archives, dem internationalen Zentrum für NS-Verfolgung, konnten die Mitarbeiter Lebensgeschichten rekonstruieren. 25 Gräber seien inzwischen »ausrecherchiert«. Einige Geschichten werden in der neuen Ausstellung zu finden sein.
Propaganda aus falschem Kontext dekonstruieren
Wabro und ihre Kollegen waren Teil des Teams rund um den Ausstellungsfilm, den Besucher künftig zu sehen bekommen. Mit dem Institut für Wissensmedien in Tübingen arbeiteten sie an einem Multitouchfähigen Medientisch, auf dem man »hinter die Kulissen« ausgewählter Propagandabilder blicken kann. »Es gilt, Motive, die in falschem Kontext gezeigt werden, zu dekonstruieren«, sagt Irlinger. Nur an Vitrinen vorbeizugehen, Exponate gucken und ein bisschen Text lesen – diese Zeit ist vorbei. Besucher sollen interaktiv eingebunden werden, »methodisch abwechslungsreicher« soll es im Vergleich zur aktuellen Ausstellung werden, sagt Karin Wabro.
Lang erwartet ist auch das neue Bildungszentrum: Das aktuelle Ausstellungsgebäude am Obersalzberg wird dazu umgebaut, parallel zum Neubau. Weiterführende Workshops und Seminare sollen dann abgehalten werden – zu ausgewählten Themen rund um den Obersalzberg im Nationalsozialismus. »Der Blick geht immer vom Berg aus«, sagt Karin Wabro und macht damit klar, was Besucher in der neuen Ausstellung erwarten können. Die Verantwortlichen des Instituts für Zeitgeschichte erzählen vom Berg aus die Geschichte des Dritten Reiches, die folgenreichen Entscheidungen, die auf 1000 Metern Höhe getroffen wurden. Künftig wird es Wechselausstellungen geben, mehr Raum für Nebenschauplätze, die vertieft und wissenschaftlich aufbereitet wiedergegeben werden. Die Museumspädagogen haben auch an den Ausstellungstexten für den Erweiterungsbau mitgewirkt. »Kurze, prägnante Texte«, sagt Bildungsreferentin Leonie Zangerl. Inschriften an den Wänden der Bunkeranlagen sind dafür analysiert worden. »Viele tote Recherchen« kamen dabei heraus, sagt Irlinger. Bei manchen Wandtexten waren die Mitarbeiter dann doch erfolgreich, konnten Rückschlüsse auf Lebensgeschichten ziehen. Diese werden in der neuen Ausstellung zu finden sein, die zudem ein inklusives Angebot für jedermann sein wird. »Wir wollen niemanden ausschließen«, sagt Irlinger.
Auch Überraschungen sind geplant
Zudem arbeitet das Team an so mancher Überraschung. »Darüber können wir noch nicht sprechen.« Dass sich ein Besuch des Erweiterungsbaus lohnen wird, davon sind die Bildungsreferenten aber bereits jetzt überzeugt.
kp