Lang hatte in der Vergangenheit zum Thema »Historische Jubiläen, die keine sind«, Recherche betrieben. Auch Kreisheimatpfleger Johannes Schöbinger hat Heimatforschung betrieben und zur Fragestellung »Kann die Stiftskirche zu Berchtesgaden im Jahre 2022 ihr 900-Jahr-Jubiläum feiern?« Antworten gesucht. Mittelalterliche Datierungen seien häufig mit »gewissen Fragezeichen« verbunden, sagt der Stadtarchivar. Frühere Zeiten seien schriftarm gewesen. Es bestand ein »verhältnismäßig hoher Spielraum« für Interpretation und Deutung. Lang weiß: »Schriftlichkeit bezog sich üblicherweise auf Rechtsgeschäfte.«
So seien Jubiläen, die auf abgesicherte Urkunden zurückgehen, zwar tragfähig. »Anders sieht es mit jenen Jubiläen aus, deren Datierungen das Ergebnis historischer Deutung sind«, weiß Lang. Denn oft erfolgten historische Deutungen – und daraus hervorgehende Datierungen – schon vor Jahrhunderten, »wobei die Maßstäbe und Methoden moderner Geschichtswissenschaft natürlich nicht zur Anwendung gelangt sind«.
Das Datum 1122 für die Kirchenweihe von Berchtesgaden erscheint erstmals bei dem Berchtesgadener Geschichtsschreiber Ernst Ritter von Koch-Sternfeld im Jahr 1815. Er schrieb davon, dass der Salzburger Erzbischof Konrad von Abenberg im Jahre 1122 die den heiligen Johannes und Peter geweihte Stiftskirche unter Beibehaltung einer dem heiligen Martin geweihten Kapelle konsekriert habe, also die Weihehandlung vollzogen habe, verwies dabei aber nicht auf Quellen. Lang sagt, es könne nur vermutet werden, dass sich Koch-Sternfeld dabei auf die handschriftliche Gründungsgeschichte Berchtesgadens bezog – eine Quelle, die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden sein dürfte und die letzten einhundert Jahre »gewissermaßen rückblickend beschreibt«. Die Gründungsgeschichte nennt zwar die Weihehandlung, allerdings kein Datum. »Erst die Interpretation Koch-Sternfelds führte zum Jahr 1122«, so der Stadtarchivar. Lang schreibt in einer E-Mail an Kreisheimatpfleger Schöbinger: »Ohne die herausragenden Leistungen Koch-Sternfelds schmälern zu wollen, so muss man doch erkennen, dass dem verdienten Historiker immer wieder mal Fehler unterlaufen sind.« Auch Walter Brugger, ehemaliger Pfarrer in Berchtesgaden, äußert sich zum 900-Jahr-Jubiläum: »Dieses Datum wurde dann kritiklos von allen weiteren Autoren übernommen.« Historiker Lang ergänzt: »Durch Wiederholung wird ein falsches Datum natürlich nicht richtiger.«
Zu Ende seines Lebens sei sich Koch-Sternfeld offenbar selbst nicht mehr ganz so sicher gewesen, was die Datierung anbelangte: Er versah die Jahreszahl mit einem »circa«. Zweifel für »900 Jahre Stiftskirche« äußert auch das Archiv des Erzbistums München-Freising. Im Schriftverkehr mit dem Kreisheimatpfleger Johannes Schöbinger heißt es, »dass die Quellen nichts hergeben, was die Festlegung einer Kirchweihe oder Ähnlichem auf das Jahr 1122 rechtfertigen würde«. Es gebe 2022 zwar Anlässe, sich zu erinnern – aber nur solange man nicht wider besseres Wissen ein 900-Jahr-Jubiläum »mit ausdrücklichem Bezug auf die (angebliche) Kirchweihe ausruft«. Auch in der mehrere Tausend Seiten umfassenden, mehrbändigen »Geschichte von Berchtesgaden« findet sich nichts, was auf die 900 Jahre hindeuten würde. Das »spricht im wahrsten Sinne des Wortes Bände«, sagt Lang.
Für Reichenhalls Stadtarchivar ist klar: »Letztlich begründete das Datum 1122 eine sogenannte Haustradition«, die bereits 1922, vor einhundert Jahren, begangen worden war. Damals wurde in Berchtesgaden entsprechend das 800-Jahr-Jubiläum groß gefeiert. Unter einer Haustradition versteht man ein innerhalb einer Institution tradiertes Datum. Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten lässt es sich eventuell zwar nicht absichern. Innerhalb des eigenen Hauses wird es aber trotzdem als fixes Datum angesehen. »Prominentes Beispiel ist das Jahr 582 für St. Peter in Salzburg«, weiß Johannes Lang. »Dieses Jahr gilt seit Jahrhunderten als Markstein für die Erzabtei St. Peter, auch wenn man die Ankunft des heiligen Rupert und die damit verbundene Klostergründung heute im Jahr 696 ansetzt, also über einhundert Jahre später.«
Haustraditionen, sagt Lang, hätten eine gewisse Bedeutung, »ja sogar eine Berechtigung, denn üblicherweise vermitteln sie das Geschichts- und Traditionsbewusstsein des jeweiligen Hauses«. Im Falle von Berchtesgaden könne man sagen, dass man seit über einem Jahrhundert an diesem Datum festhält, und man damit eine ansonsten »diffuse Datierung« konkretisiert. »Da die klösterliche Kommunität der Augustiner-Chorherren nach deren Rückkehr aus Baumburg in Berchtesgaden ansässig war, ist bereits für die frühe Phase zwangsläufig ein wie auch immer geartetes Gotteshaus zu erwarten«, so Lang. Bei vielen Klöstern und Stiften ging zunächst die Anlage von Konventsbauten einher mit einer vorerst kleinen Kirchenanlage, »die aber freilich nur als Provisorium zu betrachten war und sich später, bei laufender Vergrößerung der Kirche, beispielsweise in eine Seitenkapelle, Chorkapelle oder Kapitelkapelle verwandelt hat«.
Das gleiche Prozedere könne auch bei St. Zeno beobachtet werden, wo fast einhundert Jahre lang an der Stiftskirche gebaut wurde. Auch dort habe es frühe Weihen gegeben. Diese beziehen sich aber auf provisorische Bauten, »um den klösterlichen Betrieb überhaupt zu ermöglichen«. Ähnliches sei für Berchtesgaden denkbar, sagt Lang. »Denn dass unter dem ersten Propst Eberwin irgendeine Art von Gotteshaus vorhanden gewesen sein muss, versteht sich von selbst.« Johannes Schöbinger schlussfolgert in seinen Aufzeichnungen ein Festthema für die Stiftskirche in Berchtesgaden, das so lauten könnte: »900 Jahre Klosterbau durch Propst Eberwin«.
Kilian Pfeiffer