Es gibt ein Schwarz-Weiß-Bild von Rosemarie Strauch, da ist sie zehn Jahre alt. Das Foto klebt in einem der vielen Alben, die auf einem kleinen Tischlein neben der Couch liegen. Das Foto zeigt Rosemarie vor einer Hauswand. In ihren Händen hält sie eine große Puppe – ihr ganzer Stolz. Es ist ihre erste und bei Weitem nicht die letzte in ihrem Leben.
Über 100 Puppen als Mitbewohner
In der kleinen Wohnung, in der sie seit über einem halben Jahrhundert in der Salzburger Straße lebt, wohnen mit ihr über 100 Puppen. »Das war immer mein Zuhause, ich habe hier vier Kinder aufgezogen und meinen Mann bis zum Tod gepflegt«, sagt Rosemarie Strauch. Mit 17 Jahren hat sie ihn kennengelernt. Sie heirateten, schafften es bis zur Diamantenen Hochzeit. Genau am 61. Hochzeitstag starb der Ehemann und damit auch ein Teil von ihr. Viele Bilder hängen an den Wänden des Wohnzimmers. In den Anekdoten spielt ihr Mann, von Beruf Eisenbahner, eine gewichtige Rolle.
Für Rosemarie Strauch waren Puppen seit Anbeginn etwas Einmaliges. Das war schon so, als sie noch Kind war, das änderte sich auch nicht im Erwachsenenalter. Sie waren Begleiter im Leben, so wie ihr Mann Horst. »Ich habe mal einen Fünfer heimgebracht«, erinnert sich die 78-Jährige, »da hat meine Mutter eine Schildkröt-Puppe im Ofen verbrannt.« Der Schmerz saß tief. Die Episode hat sie nie wieder vergessen. Schildkröt ist eine der ältesten Puppen-Manufakturen der Welt.
»Jede Puppe hat ihre eigene Geschichte«
Mit großen, runden Kulleraugen sitzen die Puppen auf der Couch, einige sind aus Bakelit gefertigt, dem ersten vollsynthetischen, industriell produzierten Kunststoff. Pausbäckig und mit einem Lächeln im Gesicht schauen sie dem Betrachter in die Augen. Sie tragen Schleifchen im Haar, gesprenkelte Kleider.
Rosemarie Strauch hat im Laufe der vergangenen Jahrzehnte mehrere Ausstellungen organisiert. Dort zeigte sie Unikate aus ihrer Sammlung, besonders hübsche Puppen. Einmal sei eine ältere Dame da gewesen, sie habe eine Puppe entdeckt, bitterlich zu weinen begonnen. Dann habe sie folgenden Satz gesagt, den Rosemarie Strauch ihr Leben lang nicht mehr vergessen sollte: »Alles haben sie mir genommen, zuerst den geliebten Mann, dann die Heimat – und meine Puppen.« Eiskalt sei es der Puppensammlerin über den Rücken gelaufen.

Die Firma Schildkröt gibt es noch heute. Rosemarie Strauch hat viele Schildkröt-Püppchen in ihrer Wohnung. Im Nacken jedes Exemplars ist das Markenzeichen, eine kleine Schildkröte, zu finden. Strauch wirft den ersten Blick immer auf den Nacken. Es gibt Puppen-Exemplare, die so begehrt sind, dass unter Sammlern horrende Preise dafür aufgerufen werden. Aber um Geld geht es Rosemarie ja gar nicht. »Jede Puppe hat ihre eigene Geschichte«, betont sie. Mit jeder der teils lebensecht wirkenden Ausführungen verbindet die Sammlerin ein Stück Leben. Nostalgische Momente kommen in ihr hoch, wenn sie sich an so manches Geschenk ihres Mannes erinnert. Oft war dies eine Puppe.
Rosemarie Strauch hat nie einen Beruf erlernt. »Ich war Mutter und immer zu Hause«, sagt sie. Schnell hat sie aber eine Leidenschaft für das Handarbeiten entwickelt, entdeckte ihr Geschick für Schneiderarbeiten. In jungen Jahren begann sie zu stricken, zu häkeln, zu nähen, fand Gefallen an Stoffen und Formen, fand Freude an den Farben. Den Puppen häkelte sie ein paar Söckchen, eine Haube und eine wärmende Jacke. Sie ließ sich inspirieren, ahmte Kleider nach, orientierte sich an historischer Gewandung und stickte Muster in Miniatur-Pullöverchen. Jede einzelne Puppe ihrer Sammlung hat sie individuell eingekleidet. Wenn man die Sammlerin fragt, wie viel Zeit sie in ihr Hobby investiert hat, winkt die 78-Jährige ab. Unzählbar viele Stunden. Als ihre Kinder klein waren, saß sie fast jeden Abend auf der Couch, strickte Pullover für die Kinder oder für die Puppen. Zeit seines Lebens war der Ehemann ihr persönlicher Kritiker, erinnert sie sich. Strauch ist in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, »meine Mutter war ein richtiges Bauerndirndl«. Eine Puppe zu besitzen, war für sie also etwas Besonderes. Einmal bekam sie eine Puppe mit Porzellankopf, ein kleines Mädchen, die Glieder beweglich – ein schönes Exemplar, um das sie sich kümmerte, damit es nicht kaputt geht.
Zum Spielen sind nur die wenigsten geeignet
Die heute 78-Jährige hat vier Kinder, alles Söhne. Mit Puppen haben sie nie gespielt. Vielleicht befinden sich die Puppen auch gerade deshalb noch in solch gutem Zustand. Denn auch die Enkelkinder durften nur selten mit den Sammelfiguren spielen. Zum Spielen sind sowieso nur die wenigsten geeignet. Eher dienen sie zum Repräsentieren, so etwa im Schlafzimmer von Rosemarie Strauch. In einem offenen Schrank sitzen sie im Dutzend in Reih und Glied. Vom Bett aus hat die Sammlerin ihre Kostbarkeiten immer im Blick. Die Sammlerin war auf unzähligen Flohmärkten unterwegs und schlug zu, wenn sie wieder ein Einzelstück entdeckt hatte.

Mitbringsel aus dem Gefangenschaftsurlaub
Ein besonderes Exemplar ist ein Mädchen in Berchtesgadener Tracht. Die Kleidung hat Strauch natürlich selbst gestrickt und auf jedes Detail Wert gelegt. Auf einem kleinen Zettel hinter Plastik, der der Puppe um den Hals hängt, steht: »Wurde 1946/1947 Weihnachten vom Bernhofer Opa aus dem Gefangenschaftsurlaub mitgebracht.« Die Puppe ist fast so alt wie die Besitzerin selbst.
Puppen zu erhalten, kann manchmal ein teures Hobby sein. Manchmal geht etwas zu Bruch, Finger etwa. Bei einem Exemplar sind die Kulleraugen in den Schädel gefallen, nachdem ein Enkelkind Hand angelegt hatte. Für solche Fälle hat sie eine Unterstützerin aus Freilassing, die Strauch nur »die Puppendoktorin« nennt. »Dort bin ich immer hingefahren, wenn etwas kaputt war.«
Ihre Sammlung zu veräußern, das kommt für Rosemarie Strauch nicht infrage, solange sie lebt. »Das ist mein Leben«, sagt die Berchtesgadenerin, »darin steckt unendlich viel Liebe und Herzblut.« Solange es die Gesundheit noch zulässt, will sie weiterstricken – für ihre Puppen. Kilian Pfeiffer