Wild unterwegs
Als Fernsehreporter Gerd Rubenbauer Hilde Gerg beim Riesenslalom der Olympischen Spiele 1994 in Lillehammer als »Wilde Hilde« bezeichnete, fand sie diese Bezeichnung zunächst gar nicht passend. Heute kann sie mit dem damaligen »Spitznamen« gut leben, bezeichnet er doch einen Abschnitt ihrer langen erfolgreichen Karriere auf den Skipisten dieser Welt. Denn die junge Rennläuferin war doch oft sehr wild zwischen den Toren unterwegs.
Das Ergebnis ist beachtlich: zwei Olympische und fünf Weltmeisterschaftsmedaillen sowie 59 Podestplätze, darunter 20 Siege bei Weltcuprennen. Der Einstieg in den Sport erfolgte früh: Aufgewachsen ist sie am Brauneck über Lenggries, wo ihre Eltern eine Skihütte betrieben. Das etwas andere Leben eines »Bergdirndls« ist für die ehemalige Weltklasseläuferin auch Indikator für ihre späteren Erfolge. Denn ihr Vater nahm sie immer auf den Schultern mit den Skiern mit. Und schon mit zwei Jahren machte sie die ersten Schritte auf den Skiern. Ebenso fuhren die Kinder vom Brauneck auf Skiern zur Schule.
Nachdem im Deutschen Skiverband Nachwuchs-Speedfahrerinnen gesucht waren, schickte man Hilde Gerg zunächst auf die Abfahrtspisten. Doch sie hatte zu viel Respekt davor und wollte im Slalom ihr Glück versuchen. Zudem wechselte sie vom Berg am Brauneck zum Berg am Dürreck in die Christophorusschule. Als 16-Jährige fuhr Hilde Gerg in einem Europacuprennen mit der hohen Startnummer 64 mitten unter mehreren Weltcupläuferinnen völlig überraschend an die dritte Stelle.
Ihren größten Erfolg feierte die damals erst 22-jährige als Slalom-Olympiasiegerin 1998 im japanischen Nagano. Mit dem Satz »Ich habe die Goldmedaille sicher nicht deshalb gewonnen, weil ich mich ins Ziel heruntergebremst habe«, beschreibt Hilde Gerg ihr Ergebnis. Diesem größten Erfolg ihrer langen Karriere widmet sie auch dem Prolog ihrer Lebensgeschichte.
Vision mit 12 Jahren
Bereits als 12-Jährige hatte Gerg eine Vision: Als sie den Abfahrtsolympiasieg von Marina Kiehl im kanadischen Calgary via Fernseher mitbekommen hat, schwebte ihr schon vor, auch einmal Gold zu gewinnen und danach aufzuhören. Ihr »Problem« war jedoch, im Alter von 22 Jahren bereits den Olymp des Sports erreicht zu haben.
Hilde Gerg erinnert sich exakt an alles, was beim Olympiasieg passiert ist. Als starke Slalomläuferin lag sie nach dem ersten Durchgang noch mehr als eine halbe Sekunde hinter der damals besten Technikerin Deborah Compagnoni aus Italien. Und knapp hinter Gerg lauerte bereits mit knappem Rückstand die Australierin Zali Steggall. Und so musste sie alles riskieren. Der zweite Durchgang gestaltete sich dann auch zu einem Drahtseilakt. Nach einem Rutscher fast schon aus dem Rennen ritt sie in den letzten 20 Toren eine unwiderstehliche Attacke und ging in Führung. Aber noch stand die große Favoritin Compagnoni oben.
Bevor sie alles realisiert und ihre Ski abgeschnallt hat, war die Italienerin schon bei der Zwischenzeit schlechter als Hilde Gerg. Ihre Teamkollegin Martina Ertl, die als Dritte um Bronze bangte, rief ihr zu: »Schau hin!« Hilde Gerg sagt: »Da habe ich realisiert, dass Compagnoni Zeit verloren hat, während ich den Schlussteil perfekt erwischt habe. Als ich schließlich um 0,06 Sekunde vorne lag, dachte ich zunächst: Ich spinne.«
Viele Jahre später assoziiert sie ihre mentale Stärke mit ihrer Kindheit, die von vielen Freiräumen und einem Leben in der Natur geprägt war. Das Leben hoch oben am Berg mit all seinen Facetten habe ihr eine seelische und geistige Robustheit gegeben, von der sie nicht nur in ihrem Sportlerleben profitiert habe. Das halbe Leben im Spitzensport habe auch dazu beigetragen, dass sie später viele Entscheidungen richtig getroffen hat.
Tod des Ehemanns
Im Buch spielt auch der Tod ihres ersten Ehemanns und Trainers Wolfgang Graßl eine entscheidende Rolle. Der Verlust eines geliebten Menschen erschüttere einen im Lebensvertrauen und nehme einem die Sicherheit des Alltags, so Gerg. Es sei ein Prozess, der noch gar nicht abgeschlossen ist. Aber diesen Verlust, das Erlebte in das Leben zu integrieren, sei die Aufgabe. »Leben heißt ja auch wieder etwas riskieren, lachen, nach vorne gehen, rausgehen«, beschreibt sie ihre Empfindungen.
Die widerstandsfähige Frau erholte sich von diesem Schicksalsschlag, heiratete wieder und führt heute mit Ehemann Marcus Hirschbiel und ihren drei Kindern ein zufriedenes Leben im Berchtesgadener Ortsteil Königssee. Farbfotos von der Kindheit bis zur erfolgreichen Skirennläuferin zieren den Mittelteil der Lebensgeschichte. Die Kapitel beginnen mit gelungenen Illustrationen von Matthias Corvinus Wallig zu den jeweiligen Themenschwerpunkten. Das Buch vermittelt den Weg einer Frau, die vom Schicksal mehrmals hart geprüft wurde, aber immer wieder nach vorne geblickt und den Lebenskampf erfolgreich aufgenommen hat. Christian Wechslinger