Das Bergsteigerdorf Ramsau und der Nationalpark Berchtesgaden, der heuer sein 40-jähriges Bestehen feiert, hatten zu diesem Diskussionsabend im Rahmen des »Alpinen Philosophicums« eingeladen. Moderator Jens Badura, Kulturphilosoph und Leiter des Ramsauer Bergkulturbüros, konnte auf dem Podium drei Naturschutz-Experten begrüßen. Ulf Dworschak ist Leiter des Sachgebiets Naturschutz und Planung beim Nationalpark Berchtesgaden, der österreichische Naturfotograf und Umweltjournalist Matthias Schickhofer engagiert sich seit mehr als 20 Jahren unter anderem als Kampagnendirektor bei Greenpeace. Und dann war noch der Diplomgeograf Michael Pröttel gekommen. Der freie Alpinjournalist und Fotograf ist seit dem Jahr 2000 aktiv im Vorstand des deutschen Landesverbandes der internationalen Bergschutzorganisation Mountain Wilderness tätig.
In einem Bildervortrag zeigte Matthias Schickhofer zunächst spannende Aufnahmen aus wilden Alpengebieten, die aber durch die zunehmende Erschließung, unter anderem durch Skigebiete, zunehmend unter Druck geraten. Viele der Bausünden hatte Schickhofer bereits im letzten Jahr in seinem »Schwarzbuch Alpen« beschrieben. »Aber es gibt sie noch, die Orte, an denen die Welt an sich ohne die ordnende Hand des Forstmannes noch existiert«, betonte Schickhofer. Alleine in Österreich gibt es nach seinen Angaben noch rund 5 000 Quadratkilometer naturnahe Räume, die vor allem aus Fels, Stein und Eis bestehen.
Doch Schickhofer machte auch klar, dass man nicht alle Landschaften unter Schutz stellen wolle. »Niemand will die Forstwirtschaft abschaffen, nur wenige Prozent der Flächen sollten unter Schutz gestellt werden.« Dass hier in Österreich aktuell eine Diskrepanz bestehe, belegte Schickhofer mit zwei Zahlen: Niederösterreich wende aktuell jährlich rund 650 Millionen Euro für den Straßenbau auf, nur 1,5 Millionen Euro würden in den Naturschutz fließen.
»Welchen Wert hat Wildnis überhaupt?«, fragte Schickhofer und lieferte gleich die Antwort: Sie ist verantwortlich für die sogenannte Ökosystemleistung (Sauerstoff, Wasserrückhalt usw.), sie liefert wissenschaftliche Erkenntnisse, sie ist ein wichtiger Teil des Genpools, gilt als Evolutionslabor, fördert den Tourismus und birgt wilde Freiräume für den Menschen. »Freiheit ist ein wichtiges Thema in einer von Algorhythmen gesteuerten Welt«, betonte Matthias Schickhofer.
Alle Experten waren sich einige, dass Wildnis ein unberührter Landschaftsbereich ist, der sich selbst überlassen werde. Doch manch einer hatte zusätzlich eigene Definitionen und auch Fragen dazu. Ulf Dworschak stellte die Frage in den Raum: »Gehört der Mensch auch dazu?« Dazu lieferte Matthias Schickhofer die Aussage eines Philosophen, der den Menschen lediglich in der Steinzeit noch als Teil der Wildnis sah. Denn damals sei der Einfluss des Menschen auf die Natur noch äußerst gering gewesen.
Und Michael Pröttel lieferte eine sehr greifbare Definition des Begriffs Wildnis: »Wildnis ist für mich, wenn ich im Winter unter der Woche auf dem Schneibstein stehe und keine Menschen unterwegs sind. Ich mache mich dann auf der Großen Reibe ohne GPS auf den Weg in Richtung Kärlingerhaus.« Die Erwähnung des Kärlingerhauses nahm Jens Badura zum Anlass, die Frage nach möglichen Konflikten zwischen Naturschutz und Naturnutz beispielsweise durch Wanderer zu stellen. »Der Nationalpark beinhaltet ja auch den Aspekt des Umwelterlebnisses«, erwiderte Ulf Dworschak. »Und dafür benötige ich Infrastruktur.« Allerdings räumte er ein, dass dies oft eine Gratwanderung sei. Lösungsansätze seien Besucherlenkung und die Schaffung von Refugialräumen.
Für einen völlig falschen Ansatz hält es Matthias Schickhofer, alpine Wege mit Stahlseilen und Eisenleitern weiter auszubauen. »Wildnis hat ja auch etwas mit der Bereitschaft zu tun, sich einer gewissen Gefahr auszusetzen.« Dazu warf Jens Badura die Frage ein, wie attraktiv Wildnis überhaupt gestaltet werden soll. »Ist es nicht eine inszenierte Wildnis, wenn die Leute auf gut ausgebauten Wegen durch die Natur geleitet werden?« Ein Zuhörer hatte dazu eine klare Meinung: »Es ist nicht richtig, Wildnis noch attraktiver zu machen, weil dadurch Schaden entsteht.« Hier sah Matthias Schickhofer auch seine besondere Verantwortung als Alpinjournalist. Er wolle zwar Werbung für den Schutz der Wildnis machen, dürfe aber die Menschen nicht in zu sensible Gebiete locken.
Für eine Besucherin ist der Begriff Wildnis vor allem mit den Imaginarien der Menschen verbunden. »Während für den einen schon ein Mückenstich Wildnis ist, ist es für den anderen ein großer Felssturz«. Darin sieht sie aber etwas Positives, »weil man jedem seine eigene kleine Wildnis anbieten kann«. Ulli Kastner