Leitender Oberstaatsanwalt Dr. Wolfgang Beckstein betonte, seine Leute arbeiteten am Limit: »Ansonsten würden haufenweise Mörder, Vergewaltiger, Kinderschänder, Schleuser, Dealer und andere Verbrecher frei herumlaufen und weiterhin ihr Unwesen treiben.«
Der Leiter der Anklagebehörde begründete die übermäßige Belastung mit einer Zunahme um 210 Prozent zwischen 2019 und 2022 bei Schleusungsdelikten, einem Plus von 289 Prozent bei Kinderpornostraftaten, von 260 Prozent bei Geldwäschedelikten und von 154 Prozent bei Ausländerstraftaten im Bezirk der Staatsanwaltschaft Traunstein mit den Landkreisen Altötting, Berchtesgadener Land, Mühldorf, Traunstein sowie Stadt und Landkreis Rosenheim. Bei den Ausländerdelikten lägen derzeit weitere 6 800 Verfahren bei der Polizei »auf Halde«, dazu 2000 Drogenverfahren.
Das große Problem ist nach Dr. Beckstein die berüchtigte »Balkanroute«, die in Freilassing endet. 2015 waren noch vorwiegend Familien nach Deutschland geflüchtet, jetzt kämen in erster Linie »allein reisende junge Männer«: »Sie müssen möglichst genau registriert werden, sind sie doch in allen Ländern Westeuropas bei Straftaten überrepräsentiert.«
Seit Oktober 2022 sei ein massiver Anstieg der Schleuserdelikte im südostbayerischen Raum zu verzeichnen, fuhr der Behördenchef im Gespräch mit unserer Zeitung fort. Man werde von dem Zustrom über die Balkanroute regelrecht »überrollt«. Hauptgrund sei, dass Serbien Fluchtwillige visumsfrei weiterziehen lasse. Vorwiegend kämen afghanische, syrische, türkische, pakistanische Staatsangehörige sowie Inder, Tunesier und Marokkaner unerlaubt ins Land. Die meisten reisten nicht wie früher per Pkw oder Lkw in die Bundesrepublik, sondern per Zug.
Durch Freilassing fahren rund 160 Züge pro Tag. Die Bundespolizei versucht, jeden Zug zu kontrollieren.
Unterstützt wird die Inspektion Freilassing ob des enormen Ansturms inzwischen durch Kräfte aus Kempten, Rosenheim, des Flughafens München sowie aus Ahlbeck an der deutsch-polnischen Ostseegrenze. Bei der Staatsanwaltschaft Traunstein ist zudem seit 1. Oktober 2022 ein Kollege der Generalstaatsanwaltschaft München tätig. Eine zusätzliche Geschäftsstelle hat ihren Sitz in Rosenheim bezogen. Außerdem hilft die Staatsanwaltschaft Deggendorf beim Bewältigen eines Teils der 1 585 neuen Verfahren aus. »Ohne Hilfe von außen wären wir in anderen Bereichen untergegangen, waren doch die Steigerungen zu hoch«, so der Leitende Oberstaatsanwalt. Im Jahr 2022 hatte seine Behörde insgesamt 51.000 Verfahren gegen namentlich bekannte Täter geführt, dazu knapp 20.000 Ermittlungsverfahren gegen Unbekannte. Zum Vergleich: Zwischen 2019 und 2021 waren es pro Jahr im Schnitt zwischen 45.000 und 46.000 Verfahren.
»Schockanrufe« sind nach Dr. Beckstein ein Teil der Organisierten Kriminalität (OK). Im Jahr 2022 hat »seine« Staatsanwaltschaft in Prozessen gegen zwölf Täter insgesamt 63 Jahre und vier Monate an Freiheitsstrafen erwirkt. Die höchste Einzelstrafe betrug zehn Jahre Gefängnis. Man versuche, nicht nur die Abholer als letztes Glied der Kette zu erwischen, sondern auch an die Hinterleute zu gelangen. Aus Telefonüberwachungen ist bekannt, dass die Banden den Freistaat inzwischen scheuten: »Ein Täter wollte von der Bande einen Risikozuschlag haben, wenn er nach Bayern fährt.«
Die Staatsanwaltschaft Traunstein ist zudem belastet, weil sie bundesweit Verfahren zusammenzieht. Das so genannte »Traunsteiner Modell« seit 2018 ist mittlerweile in vielen anderen Bezirken eingeführt worden. »Grenzüberschreitende und organisierte Kriminalität« bearbeitet die Abteilung IV mit Oberstaatsanwalt Martin Freudling, den Gruppenleitern Dr. Gregor Stallinger und Dr. Florian Richter sowie den Staatsanwälten Ferdinand Hohenleitner und Pia Wilczek.
Weitere Belastungen bedeuteten zum Beispiel Sonderschichten wie beim G 7-Gipfel oder kürzlich bei »Makkabi«. Extrem viel Zeit benötigten große Ermittlungsverfahren wie zum Eiskeller-Mord in Aschau, zu dem toten Säugling in Ruhpolding, zu der Vergewaltigung in Obing oder zu dem Kindsmissbrauch durch einen Busfahrer aus Waldkraiburg. Ein Teil der Verfahren ist schon vor Gericht.
Nicht zu vergessen sind laut Dr. Beckstein die »Altfälle«: »Wir überprüfen immer wieder, ob durch technische Neuentwicklungen und neue Untersuchungsmethoden die Aufklärung gelingen kann. DNA kommt dabei die größte Bedeutung zu. Wir fordern, Genmaterial jetziger Straftäter, soweit rechtlich zulässig, in die bundesweite DNA-Kartei einzuspeisen.« Besonders wichtig sei der Staatsanwaltschaft, über den »Wertersatz« Tätern das Geld aus Straftaten wieder zu nehmen. Jedes Jahr sind das mehrere Millionen Euro. Es wurden bereits Bargeld, Häuser, teure Fahrzeuge, Uhren, Schmuck und sonstige Luxusgegenstände versteigert.
Die Behörde versucht laut Dr. Beckstein, »Geld schnell zu sichern, ehe es manchmal binnen Minuten an Hintermänner geht«. Einige Deliktsarten wie Wohnungseinbrüche sind durch technische Aufrüstung und durch die Corona-Pandemie auch zurückgegangen, informierte Dr. Beckstein.
Alle 135 Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Traunstein, davon 30 in Rosenheim, sind extrem gefordert: »Ich ziehe den Hut vor allen, die nicht nachlassen – obwohl man Freizeit verdient hätte, kein Freizeitausgleich erfolgt und Überstunden nicht bezahlt werden. Ihr Einsatz und ihr Verantwortungsbewusstsein sind unter Hintanstellung privater Belange phänomenal«, lobt Dr. Beckstein.
kd