Im Urteil hatte die Kammer den Angeklagten auch von einem Teil der Vorwürfe freigesprochen, ihm die Kosten der Nebenklage auferlegt und den Untersuchungshaftbefehl aufrechterhalten. »Zum Schutz der Geschädigten« – inzwischen etwa 16, 17 Jahre alt – erfolgte die Urteilsbegründung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Somit wurden keine Einzelheiten bekannt, welche der ursprünglich mehr als 30 angeklagten Taten dem 56-Jährigen nachgewiesen werden konnten.
Für die Staatsanwaltschaft Traunstein betonte Pressesprecher Dr. Rainer Vietze, man werde auf eine Revision verzichten. Maßgeblich dafür sei der Opferschutz. Die geschädigten Kinder sollten im Fall einer möglichen Zurückverweisung durch den Bundesgerichtshof aufgrund einer Revision der Staatsanwaltschaft nicht erneut im Rahmen einer Hauptverhandlung als Zeugen vernommen werden müssen. Aufgrund des beschränkten Prüfungsmaßstabs sehe die Staatsanwaltschaft auch keine Aussichten auf eine erfolgreiche Revision. Dazu Dr. Vietze: »Das Urteil wurde sehr sorgfältig begründet. Der Teilfreispruch ist aus Sicht der Staatsanwaltschaft vertretbar. Auch die von der Kammer verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren für die übrigen Taten ist tat- und schuldangemessen.«
Die Staatsanwältinnen Karin Hahn und Helena Neumeier hatten auf 13 Jahre Haft wegen 21 Fällen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern plädiert, ebenso die Opferanwältinnen Susanne Schomandl aus Rosenheim und Dr. Gabriele Schöch aus München. Verteidiger Andreas Knoll aus Waldkraiburg hatte einen Freispruch des Busfahrers gefordert. Sein Mandant hatte in der 14-tägigen Hauptverhandlung nur selten das Wort ergriffen. Er habe den Kindern nichts angetan, meinte er. Die belastenden Angaben der Buben bezeichnete der Angeklagte als »Lügen« und führte sie unter anderem auf eine »Falle«, ein »Komplott der Familien« zurück. Man habe ihn »fertigmachen wollen«, behauptete er.
Gemäß der öffentlich verlesenen Anklageschrift suchte der Busfahrer während seiner Arbeit auf Linien im Landkreis Rosenheim Kontakt zu Buben und forderte sie zu Treffen in seiner Freizeit auf. Über das Alter der Buben, anfangs alle noch nicht 14 Jahre alt, war er laut Anklage informiert. Der 56-Jährige soll die Kinder zwischen Herbst 2019 und Sommer 2021 teils über Wochen hinweg an abgelegenen Orten in seinem Pkw, in seiner Wohnung und bei einer Bekannten in deren Abwesenheit zu sexuellen Handlungen gezwungen haben. Widersetzten sich die Kinder, soll der Waldkraiburger mit »Mafia« und »Umbringen« gedroht haben. Aber auch Geschenke wie Geld oder ein neues Handy soll er in Aussicht gestellt haben.
Mitte Juli 2021 wanderte der 56-Jährige in Untersuchungshaft. Der Grund: Eltern waren auf der Suche nach ihrem Sohn. Der Vater hatte dem unbekannten Mann zuvor nachmittags verboten, den Buben im Auto mit nach Waldkraiburg zu nehmen und das Kennzeichen des fremden Wagens notiert. Nach Ausbleiben des Kindes am Abend riefen die Eltern die Polizei an. Beamte entdeckten den Buben in der gleichen Nacht zusammen mit dem 56-Jährigen in dessen Schlafzimmer.
Das Gericht mit Vorsitzender Richterin Heike Will hörte in dem großenteils nichtöffentlichen Verfahren Dutzende Zeugen an. Die Geschädigten mussten ihrem angeblichen Peiniger nicht in die Augen schauen, sondern konnten aus einem anderen Zimmer per Videotechnik aussagen. Direkte Tatzeugen außer den jeweils Beteiligten gab es nicht. Aussage stand gegen Aussage. Jedoch konnten Zeugen wie Eltern, Schulkameraden und Freunde in Teilaspekten wohl zur Beweisführung beitragen.
Eine Gruppe Jugendlicher hatte zum Beispiel beobachtet, wie einer der Buben um 3 Uhr nachts frierend aus einem Waldstück kam. Auf Fragen erwiderte der Bub, der Busfahrer habe ihn aus dem Auto geworfen. Er habe ihn schon öfter angefasst und bedroht, wenn er nicht mitmachen würde. Einem Mädchen hatte der Bub erzählt, es gehe ihm schlecht, er könne nicht mehr.
Der Angeklagte hatte in der Hauptverhandlung emotional unbeteiligt, fast gleichgültig gewirkt. Einzig am Ende des siebten Prozesstags schien er überrascht, als ihm eine Beamtin der Kripostation Mühldorf im Gerichtssaal einen neuen Haftbefehl wegen weiterer Missbrauchsvorwürfe eröffnete. Der 56-Jährige war nach der Inhaftierung Mitte 2021 mit Beschluss des Oberlandesgerichts München im Mai 2022 auf freien Fuß gesetzt worden. Er musste eine elektronische Fußfessel tragen. Mit dem zweiten Haftbefehl wechselte er im November 2022 wieder in eine Gefängniszelle. Zum Stand des zweiten Verfahrens teilte Pressesprecher Dr. Rainer Vietze mit, der dringende Tatverdacht auf schwerem sexuellen Missbrauch von mehreren Kindern habe sich erhärtet. Die Tatzeiten lägen schon länger zurück. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft würden beschleunigt durchgeführt, seien aber noch nicht abgeschlossen. Sollten sich die Tatvorwürfe weiter verdichten, werde auch die Frage einer Sicherungsverwahrung zu prüfen sein.
kd