Sie beschäftigen sich seit einigen Jahren mit dem Monitoring von Gletschervorfeldern der nördlichen Kalkalpen. Welche Untersuchungen stellen Sie dort an?
Prof. Dr. Ingolf Kühn: Ich untersuche, wie sich die Vegetation nach dem Rückzug der Gletscher auf den nun eisfrei gewordenen Flächen, den Gletschervorfeldern, entwickelt. Das erfolgt auf zwei Zeitebenen: Die eine ist die Untersuchung der Vorfelder unterschiedlichen Alters. Das heißt: Wie sieht es dort aus, wo sich der Gletscher in den vergangenen zehn Jahren zurückgezogen hat? Wie sah das in den 1980er-, in den 1950er-Jahren und vor etwa 100 bis 120 Jahren am Blaueis und am Watzmann aus? Denn in den Berchtesgadener Alpen gab es noch um 1900/20 einen Gletschervorstoß. Dazu habe ich in den unterschiedlich alten Vorfeldern je vier Dauerbeobachtungsquadrate in den jüngsten Flächen beziehungsweise drei in den älteren Flächen angelegt. Diese sind einen Quadratmeter groß, mit Magnetnägeln markiert und per GPS eingemessen, damit ich sie immer wiederfinden kann. Das wiederum erlaubt mir die Untersuchung einer zweiten Zeitebene: Wie ändert sich die Vegetation dynamisch im Laufe der Zeit? Dazu müssen die Dauerbeobachtungsflächen alle zwei Jahre besucht und die Vegetation erfasst werden. Die Quadratmeter-Fläche wird in 100 Teilflächen mit jeweils zehn auf zehn Zentimeter unterteilt. Das Vorkommen jeder Art auf jeder der Kleinflächen wird notiert. Damit erhalte ich eine Frequenz der Arten in den Flächen. Abschließend wird die Deckung der Gesamtvegetation und jeder einzelnen Pflanzenart grob abgeschätzt.
Datenbanken spielen dabei eine wichtige Rolle, oder?
Prof. Dr. Kühn: Ja, denn in einem weiteren Schritt werden bestimmte Merkmale der Pflanzen aus Datenbanken zugeordnet. Dabei geht es dann um Fragen, wie die Arten bestäubt werden. Wie breiten sie sich aus und welche Blattmerkmale oder Sameneigenschaften haben sie? Das erlaubt eine Aussage darüber, wie sich die Zusammensetzung der Merkmale in den Gletschervorfeldern verändert, und damit eine Ableitung, wie unterschiedliche Funktionen im neuen Ökosystem entstehen und sich verändern. In Zukunft werden die Merkmale auch im Feld gemessen und nicht nur aus Datenbanken ermittelt, aber das ist sehr zeitaufwendig.

Auf welchen Zeitraum sind Ihre Untersuchungen im Nationalpark Berchtesgaden angelegt?
Prof. Dr. Kühn: Die Untersuchungen haben 2018 begonnen und sollten sie bis mindestens 2028, besser 2038, dauern. Wenn meine Knie mitmacht. Wir sind gerade dabei, erste Ergebnisse zu analysieren. Es scheint so, dass sich die Vegetationsentwicklung in den nördlichen Kalkalpen fundamental von der Entwicklung in den Zentralalpen unterscheidet. Die Zentralalpen werden seit mehr als 70 Jahren untersucht, erstere so gut wie noch gar nicht. Erste Ergebnisse deuten an, dass die Vegetationsentwicklung auf Kalk in den Nordalpen anders verläuft als in den Zentralalpen. Dies liegt sowohl am geologischen Substrat, der Bodenbildung, der Wasserverfügbarkeit als auch an den geomorphologischen Verhältnissen. Wie zu erwarten, nimmt mit zunehmendem Alter der Vegetation die Artenzahl als auch die Vegetationsbedeckung zu. Allerdings verläuft diese Zunahme viel langsamer als in den Zentralalpen.
Kilian Pfeiffer
Das ganze Interview lesen Sie in der heutigen Ausgabe (Montag, 10. Oktober) des Berchtesgadener Anzeigers.