Mit einem breiten Grinsen blickte Tadej Pogacar noch einmal kurz zurück, dann fuhr der slowenische Ausnahmekönner nach einer weiteren Machtdemonstration mit erhobenem Zeigefinger über die Ziellinie. In den Weinbergen der Ardèche hat der Tour-de-France-Champion seinen Rivalen einen weiteren schweren Schlag versetzt und nur eine Woche nach dem WM-Triumph von Kigali auch erstmals die Straßenrad-Europameisterschaft gewonnen. Pogacar siegte nach einem beeindruckenden 75-Kilometer-Soloritt vor seinem großen Widersacher Remco Evenepoel und dem französischen Top-Talent Paul Seixas.
»Jedes Jahr will ich besser sein, mehr Erfahrung sammeln und verschiedene Rennen gewinnen. Ich bin glücklich, all diese Rennen zu gewinnen. Ich muss das genießen, solange ich kann«, sagte Pogacar, der im Ziel 31 Sekunden Vorsprung hatte: »Ich fand nicht, dass es super dominant war. Remco war richtig gut. Ich musste alles geben.«
Der erhoffte Dreikampf fiel auf dem schweren Rundkurs über 202,5 Kilometer aus, denn Tour-Rivale Jonas Vingegaard aus Dänemark spielte überhaupt keine Rolle und wurde schon 109 Kilometer vor dem Ziel abgehängt. Und bei Doppel-Olympiasieger Evenepoel wurde wieder einmal deutlich, dass er zwar über einen großen Motor verfügt, an den langen Anstiegen aber gegen Pogacar hoffnungslos unterlegen ist.
Deutsches Team wieder ohne Medaille in den Eliterennen
Chancenlos war auch das deutsche Team um Ex-Junioren-Weltmeister Lennard Kämna. Schon früh im Rennen war kein Fahrer mehr in Schlagdistanz zur Spitzengruppe. Der Tour-Dritte Florian Lipowitz war wie bei der WM nicht dabei, könnte aber in Zukunft gerade auf derart schweren Strecken eine Rolle spielen.
Damit blieb das deutsche Team in den EM-Eliterennen ohne Medaille, einige Erfolge bei den Junioren hübschten die Bilanz etwas auf. Bei den Frauen hatten Franziska Koch und Antonia Niedermaier am Samstag mit den Plätzen fünf und acht zwar für eine starke Teamleistung gesorgt, das niederländische Team mit Europameisterin Demi Vollering war aber eine Nummer zu groß.
Vingegaard und seine Probleme bei Eintagesrennen
Im Männer-Rennen war die Hoffnung auf einen offenen Schlagabtausch groß. Nie zuvor bei einer EM war das Feld derart hochkarätig besetzt. Und ähnlich wie vor einer Woche in Ruanda ging es bereits frühzeitig zur Sache. Für Vingegaard war das Tempo allerdings viel zu hoch. »Ich hatte immer Probleme mit Eintagesrennen. Dieses Rennen ist ein Test«, hatte der zweimalige Tour-de-France-Sieger gesagt. Nur drei Wochen nach seinem Vuelta-Sieg dürfte die Ernüchterung bei Vingegaard, der erstmals seit 2018 im Nationaltrikot unterwegs war, groß gewesen sein.
Kaum war Vingegaard abgehängt, schlug Evenepoel ein höllisches Tempo an. Der Belgier, der zukünftig für das deutsche Red-Bull-Team fährt, wollte Revanche nehmen für das WM-Rennen vor einer Woche. Doch am Côte de Saint-Romain-de-Lerps, einem sieben Kilometer langen Anstieg mit durchschnittlich 7,2 Prozent Steigung, offenbarten sich wieder die Schwächen des WM-Zweiten am Berg. Lediglich in den Zeitfahren ist der 25-Jährige derzeit unschlagbar - Evenepoel gewann Mitte der Woche nach den Triumphen bei Olympia und der WM auch bei der EM den Kampf gegen die Uhr.
18. Saisonsieg für Pogacar
Für Pogacar war es bereits der 18. Saisonsieg. Neben dem WM-Titel in Ruanda hatte der Slowene unter anderem vier Etappenerfolge und seinen vierten Gesamtsieg bei der Tour geholt sowie die Klassiker Flandern-Rundfahrt, Flèche Wallonne und Lüttich-Bastogne-Lüttich gewonnen.
Und ein letztes Highlight wartet in diesem Jahr noch. In der nächsten Woche steht mit der Lombardei-Rundfahrt das letzte sogenannte Monument in diesem Jahr auf dem Programm - ein Rennen, das Pogacar in den vergangenen vier Jahren dominierte.
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