Allerdings stellen sowohl Regisseur Jochen Alexander Freydank als auch Roland Ampenberger, realer Pressesprecher der Bayerischen Bergwacht, klar: Der Konflikt zwischen der Bergwacht und den internationalen Höhlenrettern ist, wie auch andere aus dramaturgischen Gründen in den Film eingebaute Nebenhandlungen, reine Fiktion. Wirklich spannend und authentisch geschildert sind allerdings die in kroatischen Höhlen nachgedrehten Szenen während der Bergung des in rund 1000 Metern Tiefe schwer verunglückten Josef Häberle (Schauspieler: Roland Silbernagl).
Es ist der Pfingstsonntag 2014, als der Höhlenforscher Johann Westhauser in Deutschlands tiefster Höhle durch einen herabfallenden Lehmbrocken schwer am Kopf verletzt wird und ein Schädel-Hirn-Trauma erleidet. Lange ist nicht klar, ob Westhauser überleben wird beziehungsweise überhaupt aus der Tiefe des Berges gerettet werden kann. In der Folge eilen immer mehr Experten aus ganz Europa nach Marktschellenberg und Berchtesgaden, um ihre Hilfe anzubieten. Und der Medienauflauf im Talkessel erreicht Ausmaße wie noch nie zuvor.
Nach der Dokumentation »Das Riesending – 20 000 Meter unter der Erde« aus dem Jahr 2021, in der Freddie Röckenhaus, Petra Höfer und Benjamin Völz fünf Forscher in die Tiefen des Untersbergs begleiteten, gibt es nun also auch den ersten Spielfilm über das Drama, das den Namen Berchtesgaden weltweit in die Schlagzeilen brachte. Regisseur Jochen Alexander Freydank orientiert sich bei der Handlung einerseits ganz nahe am damaligen Geschehen, um sich dann aus dramaturgischen Gründen aber wieder ganz weit davon zu entfernen. Gedreht wurde unter anderem in Marktschellenberg an der Schnitzhofallee, auf dem Untersberg, in der Kaserne Strub, bei der Feuerwehr Freilassing und in kroatischen Höhlen.
Überforderter Einsatzleiter
Nicht gut weg kommen in dem Thriller, der am »FilmMittwoch im Ersten« ausgestrahlt wurde und noch einen Monat lang in der ARD-Mediathek abzurufen ist, die Bergwacht und die Presse. So ist Einsatzleiter Bertram Erhard, gespielt von Maximilian Brückner (»Tatort«), mit den zu treffenden Entscheidungen überfordert. Er will mit einem großen Rettungseinsatz keine Menschenleben gefährden, zumal er eine Bergung des schwer verletzten Josef Häberle ohnehin für nicht möglich hält. Im Gedächtnis sitzt dem Einsatzleiter auch ein Jahre zurückliegender, von ihm geleiteter Lawineneinsatz am Göll, bei dem zwei Bergwachtler ums Leben gekommen waren. Nach außen gibt sich Erhard stark, doch in Wirklichkeit schwächt ihn das ständige Zaudern.
Wichtig ist ihm, genauso wie Wolfgang Breitsamer (Marcus Mittermeier), dem Vertreter des Innenministeriums, das Image der Bergwacht beziehungsweise »das heilige Bild der Bergwacht«, wie es der junge Bergretter Steff formuliert. So weist man tagelang die Hilfsangebote der aus ganz Europa angereisten Höhlenexperten zurück. Erst als Bertram Erhard auf den steigenden Druck hin die Einsatzleitung an seine Kollegin Helene Rechlin (Anna Brüggemann) abgibt, kommt Bewegung in die Sache, eine große, so noch nie da gewesene Rettungsmaschinerie rollt an.
»Film ist Fiktion. In diesem Film geht es ja nicht nur um den Vorgang der Rettung dort unten. Es ist auch ein Film über menschliche Ängste, Bürokratie und darüber, dass wir in Europa mehr erreichen können, wenn wir uns auf Gemeinsamkeiten besinnen«, erklärt Regisseur Freydank dazu. »Der Konflikt ›Will man andere Menschenleben gefährden, um einen Menschen zu retten?‹ ist eben ein sehr komplexer Konflikt. Da gibt es keine einfachen Antworten.« Und wie immer bei einem künstlerischen Werk, gehe es auch um Überhöhung.
Konflikt frei erfunden
Wichtig zu erwähnen ist auch, dass die Bergwacht im realen Einsatz die Hilfe der internationalen Gemeinschaft dankbar angenommen hat. Der im Film dargestellte Konflikt zwischen Bergwacht und Höhlenrettern habe so nie bestanden, sagt auch der Sprecher der Bergwacht Bayern, Roland Ampenberger. An vielen entscheidenden Stellen sei vom realen Geschehen umfangreich zu Gunsten der Dramaturgie abgewichen worden. »Fernsehspielfilme haben bekanntermaßen nicht das Ziel die Realität abzubilden, sondern Spannung und Emotionen zu erzeugen um Unterhaltung für den Zuschauer zu bieten«, sagt Ampenberger. Ob dies hier gelungen sei, müssten die Fernsehzuschauer entscheiden.
Die Sensationsgier der Medien
Kaum übertrieben ist allerdings die kritische Darstellung der Rolle, die die Medien bei ihrer Berichterstattung spielten. Einerseits viele naive Fragen bei den Pressekonferenzen und andererseits die Enttäuschung, wenn es keine spektakulären neuen Nachrichten aus der Höhle gibt. Statt Empathie nur Sensationsgier. So berichtet eine Reporterin auf dem Berchtesgadener Marktplatz vor laufender Kamera von den sinkenden Überlebenschancen Häberles, um nach Ende des Beitrags emotionslos die Kollegen zu Fragen: »Gehen wir auf 'nen Kaffee?«
Dass im Thriller auch viel Frauenpower vorkommt, sei dramaturgisch so gewollt, sagt Regisseur Freydank. So seien zum Beispiel einige Charaktere geschaffen worden, die von mehreren realen Personen inspiriert wurden. Das gilt für die Höhlenforscherin Birgit Eber-harter (Verena Altenberger), die aus dem engen Freundeskreis um den verunglückten Josef Häberle stammt. Sie war einst nach einem Unfall in der Kolowrathöhle von Häberle gerettet worden und will sich jetzt revanchieren. Also steigt sie zusammen mit der Ärztin Raffaela Pardeller (Sabine Timoteo) und weiteren Begleitern hinunter, um Josef Häberle ans Tageslicht zu holen. Die oft emotionalen Dialoge und verbalen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Frauen sind leider durch die teils schlechte Tonqualität erheblich beeinträchtigt und schmälern den Fernsehgenuss.
Spannende Bilderaus der Höhle
Richtig gut gelungen sind dagegen die Sequenzen während der Rettung. Die spannenden Aufnahmen zeigen authentisch und deutlich, wie große die technischen Herausforderungen damals waren. Hunderte von Einsatzkräften aus ganz Europe bauen eine Rettungskette auf, wie es sie noch nie gab. Es sind eindrückliche Bilder aus der Dunkelheit, die den extremen und gefährlichen Einsatz nachzeichnen. Mit spektakulären Aufnahmen vermittelt Freydank eine Ahnung von der Unterwelt. Das Licht der Stirnlampen wirft wilde Schatten an die Felswände. Schemenhaft sind riesige Schächte erkennbar, Schritte hallen, Wasser tropft. Dann wieder geht es durch enge Stellen – Platzangst. Das internationale Team arbeitet perfekt zusammen und schafft es tatsächlich, Josef Häberle nach elf Tagen aus der Höhe zu bringen.
Einen durchaus realen Hintergrund hat auch der Auftritt des jungen Bergretters »Steff«, den es tatsächlich gab. Durch seine Unbekümmertheit, seine Leistungsstärke und seine sympathischen, bescheidenen Auftritte gegenüber der Presse wird er schnell zum »Gesicht der Bergwacht«. Und am Ende zeigt er noch einmal Rückgrat, als der Vertreter des Innenministeriums, immer noch gestylt in Anzug und mit Krawatte, gegenüber der Presse arrogant verkündet: »Dieser Tag wird, das kann man ohne Übertreibung sagen, in die blau-roten Annalen der Bergwacht eingehen.« Im Vorbeigehen ruft »Steff« dem Ministerialbeamten zu: »Jetzt schleichst Di!«.
Ulli Kastner