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Die Experten am Podium (v.l.): Benedikt Wiesenegger, Simon Tica, Kerstin Daubner, Marita Koralewski, Karin Wagner und Dr. Barbara Stöttner. (Foto: Landratsamt)

Häusliche Gewalt: Ein großes Problem mit hoher Dunkelziffer

Berchtesgadener Land – Häusliche Gewalt ist keine Frage des Alters oder des Bildungsgrads: Sie zieht sich durch alle sozialen Milieus und Bevölkerungsschichten und findet meist zu Hause hinter verschlossenen Türen statt. Der Kreislauf muss dringend unterbrochen werden, denn Gewalt wird generationenübergreifend weitergegeben: Erleben Kinder Gewalt bei den Eltern, ist das Risiko hoch, dass auch sie in ihrem Leben selbst Gewalt ausüben oder von Partnerschaftsgewalt betroffen sind. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des »Runden Tisches gegen Häusliche Gewalt« wird rund um die Ausstellung »Häusliche Gewalt LOSwerden« mit vereinten Kräften daran gearbeitet, genau das zu erreichen: gemeinsam häusliche Gewalt loswerden.


Die Zahlen sprechen für sich: Jede dritte Frau – 80 Prozent der Betroffenen von häuslicher Gewalt sind Frauen – erfährt mindestens einmal im Leben sexuelle oder psychische Gewalt. Jeden zweiten Tag kommt in Deutschland ein Mensch durch partnerschaftliche Gewalt um. Im Berchtesgadener Land wurden im Jahr 2024 insgesamt 121 Fälle von häuslicher Gewalt zur Anzeige gebracht. Die Dunkelziffer ist weitaus höher. Denn die Angst vor den Konsequenzen ist groß – oder auch das fehlende Bewusstsein, dass eine Grenze überschritten wurde.

Anlässlich des 10-Jahre-Jubiläums des »Runden Tisches gegen Häusliche Gewalt« – eines Netzwerks, bestehend aus Fachkräften von Polizei und verschiedenen Sozialdiensten und Beratungsstellen – wird derzeit ein vielseitiges Programm im Landkreis umgesetzt, um die Bevölkerung zu sensibilisieren. Denn nur gemeinsam können die Zahlen gesenkt und kann Betroffenen geholfen werden: »Das Wichtigste ist, ein Bewusstsein für häusliche Gewalt und ein aufmerksames Auge für ihre Opfer zu schaffen. Denn für viele Mitmenschen ist sie ihr Alltag und findet dennoch im Geheimen statt«, erklärt die Gleichstellungsbeauftragte des Landratsamts, Irene Meier, die Zielsetzung des Programms.

Wenn das Zuhause zum Tatort wird

Zentraler Baustein der Kampagne ist die Ausstellung »Häusliche Gewalt LOSwerden«. Sie verdeutlicht, dass das eigene Zuhause zum häufigsten Tatort wird. Ziel ist es, ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Fälle von häuslicher Gewalt zu schaffen und Betroffene gleichzeitig niedrigschwellig auf Hilfs- und Beratungsangebote hinzuweisen.

Experten der Polizei, der Rechtsmedizin, der Rechtsprechung, der Beratungsstellen und sozialen Dienste aus Südostbayern tauschten sich im Rahmen einer Podiumsdiskussion vor Fachpublikum – bestehend aus Vertretern von Schulen, Beratungsstellen und Sozialen Diensten – darüber aus, worauf zu achten ist, wie unterstützt werden kann und was die aktuellen Herausforderungen sind.

Marita Koralewski ist Leiterin des Frauenhauses Rosenheim-Traunstein und Fachbereichsleiterin »Häusliche Gewalt« des Sozialdienstes katholischer Frauen SkF Südostbayern (SkF Südostbayern). Sie verdeutlichte, dass es nicht ohne die Bereitschaft des Opfers geht, ein für alle Mal »Stopp« zu sagen. Zu gehen, hat weitreichende Konsequenzen. Diese Frauen fangen mit dem Schritt ein neues Leben an, in vielerlei Hinsicht, und schützen damit auch ihre Kinder. Karin Wagner, Beauftragte der Polizei für Kriminalitätsopfer beim Polizeipräsidium Oberbayern Süd, betonte die Wichtigkeit der Beratungsstellen, denn sobald jemand einen Fall bei der Polizei vorbringt, ist diese gezwungen, Anzeige zu erstatten. Dieser Schritt sollte gut vorbereitet sein und idealerweise nach einer umfassenden Beratung durch die Beratungsstelle erfolgen.

Kerstin Daubner, Rechtsanwältin für allgemeines Zivilrecht, Familienrecht, Arbeitsrecht und Mietrecht, berichtete, wie sie aus juristischer Sicht Betroffene begleitet. Dr. Barbara Stöttner vom Institut für Rechtsmedizin der Universität München skizzierte den Prozess für eine vertrauliche Spurensicherung und wies auf die Entwicklung hin, dass auch niedergelassene Ärzte über gezielte Fortbildungen mehr Wissen verankern können über Spurensicherung und Befundaufnahme im juristisch verwertbaren Sinn. So bleiben Opfern weite Anfahrtswege erspart.

Simon Tica von der Diakonie Soziale Dienste Oberbayern ist Bereichsleiter der »Fachstelle Täter*innenarbeit« häusliche Gewalt Rosenheim. Zusammen mit seinem Team arbeitet er gezielt mit den Tätern und Täterinnen häuslicher Gewalt mit dem Ziel, dass diese Verantwortung für die Taten übernehmen und Konfliktlösungsstrategien erarbeiten.

Als Arbeitsbereichsleiter des Allgemeinen Sozialdienstes im Amt für Kinder, Jugend und Familien setzt Benedikt Wiesenegger den Fokus seiner Arbeit auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen. Denn selbst, wenn diese nicht Gewalt am eigenen Körper erfahren, ist das Risiko hoch, dass sich durch das Erleben von Gewalt zwischen den Eltern Folgeschäden bei den Kindern und Jugendlichen manifestieren. Statistiken zeigen, dass das Risiko von Erkrankungen wie Adipositas, Diabetes und koronaren Herzerkrankungen bei diesen Kindern im späteren Leben höher ist als bei Kindern, die diesen Erfahrungen nicht ausgesetzt waren.

Gewalterfahrungprägt Kinder

Zusätzlich wies Wiesenegger auf die transgenerationale Weitergabe hin: Erleben Kinder Gewalt bei den Eltern, steigt die Wahrscheinlichkeit enorm, dass sie diese Verhaltensweisen in ihrem eigenen Leben reproduzieren. Dieser Kreislauf kann nur durchbrochen werden, indem Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag nicht mehr mit solchen Situationen konfrontiert werden oder selbst Partnerschaftsgewalt erleben. Um passende Unterstützungsmaßnahmen anbieten zu können, ist der Allgemeine Sozialdienst auf ein wachsames Umfeld der Kinder und Jugendlichen angewiesen. Dazu gehört die gesamte Bevölkerung insbesondere Lehrer, Ärzte, Nachbarn, Freunde und vor allem die Eltern selbst. Im Zweifelsfall empfiehlt es sich immer, mit dem örtlichen Amt für Kinder, Jugend und Familien Rücksprache zu halten. Dieser Anruf kann auch vollkommen anonym erfolgen. Daher ist die klare Bitte des Allgemeinen Sozialdienstes: »Augen auf und mutig im Kinderschutz.«

Das unterstreicht auch Sarah Conrad vom Präventiven Kinder- und Jugendschutz des Jugendamts: »Meist wird häusliche Gewalt erst sichtbar, wenn sie eskaliert ist. Diese Eskalation muss unbedingt vermieden werden. Daher sind die frühzeitige Erkennung von häuslicher Gewalt und die Prävention so wichtig.«

Zusammen mit den Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises organisierte Conrad die Aktionswochen des »Runden Tisches gegen häusliche Gewalt« und möchte damit sowohl die hiesige Bevölkerung als auch das Fachpublikum für das wichtige Thema sensibilisieren.

Weiterführende Infos

Betroffene im Berchtesgadener Land können sich zur Beratung und Unterstützung an die Interventionsstelle des Sozialdienstes katholischer Frauen SkF wenden, Telefon 08051/62110; E-Mail info@skf-prien.de, www.skf-prien.de. Unterstützung gibt es auch am Hilfetelefon: unter der Nummer 116 016 oder online auf www.Hilfetelefon.de.

Ärzte können sich nähere Informationen zur Weiterbildung in der vertraulichen Spurensicherung bei dem Institut für Rechtsmedizin einholen per Mail an Barbara.Stoettner@med.uni-muenchen.de. fb