Als der Berchtesgadener Unternehmer Dr. Bartl Wimmer die Klinik Schönsicht vor mehr als einem Jahr kaufte und große Erweiterungspläne ankündigte, waren es vor allem adipöse Kinder und Asthmatiker, die in der Einrichtung behandelt wurden. Heute ist das Spektrum deutlich erweitert. Mit der Ankündigung, dass die erste Fachklinik für medienabhängige Kinder und Jugendliche entstehen soll, haben die Beteiligten einen Coup gelandet. Denn eine vergleichbare Einrichtung gibt es noch nicht.
In Bischofswiesen werden auch zunehmend psychische Erkrankungen behandelt, ebenso Post- und Long-Covid-Fälle oder junge Patienten mit ADHS-Diagnose. Reha-Aufenthalte von Jugendlichen wie hier am Oberkälberstein haben in den vergangenen Jahren zudem einen Wandel durchlaufen: Viele der Kinder erscheinen nicht mehr alleine zur mehrwöchigen Rehabilitation, sondern werden von Mutter oder Vater begleitet. Die Tendenz: stark steigend. »Bis Ende September sind wir komplett voll«, sagt Klinikleiterin Iris Edenhofer.
Eigentümer Bartl Wimmer beabsichtigt, eine Millionensumme in die Klinik zu investieren. Die Rentenversicherer, die als Kostenträger zuständig sind, forderten nach dem Verkauf an Wimmer umfangreiche Investitionen: Das Haus ist in die Jahre gekommen und es sollen deutlich mehr Bleibe-Kapazitäten für Eltern–Kind-Aufenthalte geschaffen werden.
Dies gilt dann auch für das Modellprojekt mit der Berliner Charité. Medienabhängigkeit ist mittlerweile eine anerkannte Krankheit in Deutschland. Der Modellzeitraum ist für drei Jahre angesetzt, soll am 1. Januar 2024 starten und bis Ende 2027 laufen. Noch gibt es wenige Studien zur Medienabhängigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Fakt ist: Es gibt spätestens seit der Coronapandemie einen Trend zu steigenden problematischen Nutzungsformen bei Internet, Smartphone und Computer.
In der Projektbeschreibung heißt es: »Angaben über Ausmaß und Verbreitung von problematischen Nutzungsformen (...) sind aufgrund fehlender einheitlicher und allgemeingültiger Definitionen nur erschwert möglich.« Mit Medienabhängigkeit ist »die exzessive, problematische und unangemessene Nutzung von Medien« gemeint, die als Konsequenz »zu pathologischem und therapiebedürftigem Verhalten führen kann«.
Eine Studie aus dem Jahr 2013 kommt zum Ergebnis, dass 1,4 Millionen Menschen als gefährdet gelten, internetabhängig zu werden. Bei den 14- bis 16-Jährigen liegt der Wert bei 4 Prozent. Aktuelle Erhebungen ohne Studienbeleg gehen davon aus, dass aufgrund des Lockdowns mittlerweile noch deutlich mehr Jugendliche wegen Medienabhängigkeit behandelt werden müssten.
Dr. Erik Kolfenbach ist Kinder- und Jugendpsychiater in der Klinik Schönsicht. Er sagt: »Jedes Grundschulkind hat mittlerweile ein Smartphone.« Die sukzessiv gesteigerte Nutzung könne als Bewältigungsstrategie für Langeweile, Stress oder Einsamkeit negative Auswirkungen auf das Wohlergehen von Kinder und Jugendlichen haben. Kolfenbach kennt Fälle von jungen Leuten, die mehr als zehn Stunden am Tag das Smartphone nutzen – vor allem zum Spielen, Streamen und für soziale Medien wie TikTok und Instagram.
Bereits eine Nutzung von zwei Stunden am Tag kann zu einer Beeinträchtigung des Tagesablaufs des Kindes führen. »Das sollte von den Eltern gut mitbegleitet werden«, unterstreicht Iris Edenhofer. Viele der Kinder ziehen sich zurück. Handy und Co. sind dann die einzigen Begleiter des Lebensalltags.
In der Klinik Schönsicht sollen genau hier angesetzt werden. Derzeit arbeiten 76 Personen in der Einrichtung. Spätestens mit dem Start des Modellprojekts dürfte das Team deutlich erweitert werden, sagt die Klinikleiterin.
Während das kommende Jahr ganz im Zeichen für vorbereitende Maßnahmen genutzt wird, Erhebungen angegangen und Interviews mit Jugendlichen geführt werden, soll im zweiten Quartal 2025 eine Erprobungsphase in Zusammenarbeit mit der Charité Berlin starten. Bis zu 40 Jugendliche, bei denen bereits eine Form der Medienabhängigkeit diagnostiziert wurde, sollen bis zu zwölf Wochen stationär am Oberkälberstein aufgenommen werden. Dabei wird von Experten ermittelt, welche Behandlungsformen notwendig sind, um die soziale Kontaktfähigkeit langfristig zu steigern und eine »lebenspraktische Stärkung zu ermöglichen«, sagt Erik Kolfenbach. »In diesem Modellzeitraum wird der Therapieplan für die Zukunft entwickelt«, betont Iris Edenhofer.
Ab dem zweiten Quartal 2026 soll die Durchführungsphase eingeläutet werden, in der dann die gewonnenen Erfahrungen im Praxisbetrieb zur Anwendung kommen. Bis dann, hofft die Klinikleiterin, soll der Neubau am Oberkälberstein auch stehen. Die Kinder und Jugendlichen der Projektgruppen werden zudem regelmäßig ausführliche Befragungen durchlaufen.
Ein Abschlussbericht Ende 2027 soll dann das Ergebnis liefern, ob eine Rehabilitation für Medienabhängigkeit nicht nur am Oberkälberstein, sondern flächendeckend in ganz Deutschland angeboten werden kann.
Kilian Pfeiffer