»Mauretanien? Da müssen wir durch. Liegt auf dem Weg in den Senegal, nicht mehr als ein Transitland« – so dachte ich ohne große Erwartungen über unser nächstes Reiseland nach Marokko und der Westsahara. Weitere vier Monate lang werden wir andere afrikanische Länder erkunden. Mein Freund Catalin (53) und ich, Miriam (49), reisen ein Sabbatjahr lang auf eigene Faust und mit Handgepäck. Nun also Mauretanien: Dreimal so groß wie Deutschland bei rund vier Millionen Einwohnern. Überwiegend Wüste und Oasen. Das klingt andererseits vielversprechend menschenleer und märchenhaft wie aus 1001 Nacht.
Unweit hinter der Landgrenze in Nouadhibou, einer farblosen Kleinstadt mit riesigem Exporthafen, finden wir ein geräumiges Hotelzimmer. Die daumengroße Kakerlake in der Ecke stört uns nicht weiter, denn sie liegt tot auf dem Rücken, die Beinchen nach oben gereckt.
Am nächsten Tag geht die Suche los nach einer Fahrgelegenheit in die Hauptstadt Nuakschott. Im unscheinbaren Büro der Minibusgesellschaft empfängt uns der Angestellte dösend. Er liegt auf einer Matratze. Mit »Salam« – was so viel wie ein saloppes »Hallo« bedeutet – begrüßt er uns noch vom Boden aus, ehe er aufsteht, um uns die Tickets zu verkaufen. Anschließend legt er sich wieder hin. Genau so wickeln viele Angestellte in Geschäften und Verkäufer auf dem Markt ihren Kundenverkehr ab.
Afrikanische Zeit kennt keine Fahrpläne
Er teilt uns mit, dass die Abfahrtszeit in fünf Minuten sei, aber der Trip beginnt erst fünf Stunden später. Wir üben uns in Geduld. Afrikanische Zeit kennt keine Fahrpläne. Wie heißt es nicht umsonst: Europäer haben Uhren, Afrikaner haben Zeit. Abgefahren wird genau dann, wenn alle Sitzplätze gefüllt sind und nachdem der Motor bereits eine halbe Stunde im Stand warmgelaufen ist.
Sieben Stunden unterwegs über enge Teerstraßen und zahlreiche Schlaglöcher, das macht drei Betpausen am Straßenrand. Ob mit oder ohne mobilen Gebetsteppich. Das Niederknien gen Mekka funktioniert auch auf Wüstensand, der Turban sitzt überall tadellos.
Wir haben kein Sitzfleisch. Schon am nächsten Tag brechen wir aus der Hauptstadt über das geschäftige, chaotische Wüstenstädtchen Atar auf nach Chinguetti, dem Eingangstor zu Mauretaniens magischen Dünen. Dieses Mal mit einem Pickup (in Mauretanien immer ein Toyota Hilux) bei deutlich verminderter Geschwindigkeit über unbefestigte Wüstenstraßen.
Wir befinden uns mit zwei Berbern auf dem Rücksitz. So kommt man sich automatisch näher, aber nicht ungezwungen. Eine Frau darf nicht neben fremden Männern sitzen, das gilt als unschicklich. Für mich bedeutet das: Ein Fensterplatz ist garantiert. Das passt ja. Gewöhnungsbedürftig eng bleibt es trotzdem.
Der Horizont flirrt bei 38 Grad, wir vier Passagiere kleben mittlerweile aneinander. Die Ziege auf dem Dach unseres Wüstentaxis streikt mit lautem Klagen. Sie wurde ganz oben auf die Ladung drauf gepackt, unter ein Fischernetz. So trotzt sie, wie ein Amazonpaket eingeschnürt, versandfertig der gleißenden Sonne. Nur Kopf und Hörner schauen zwischen den Netzmaschen raus. Der Empfänger? Ein berberischer Kleinbauer.
Auf unsere besorgte Frage nach der Befindlichkeit des Tieres erhalten wir die achselzuckende Antwort des Fahrers: »This is Mauretania.« Mensch und Tier werden hier wie selbstverständlich zusammen transportiert. Das ist Mauretanien. Doch es bietet Einiges mehr.
Ein Meer aus Sanddünen
Direkt hinter dem Wüstenstädtchen Chinguetti wartet auf uns die wuchtige Ödnis der Sahara. Funkelnde Sterne weisen uns in aller Früh zu Fuß im kalten Dunkel den Weg, der Sonne entgegen. Nach ein paar Stunden erreichen wir im Morgengrauen ein Meer aus Sanddünen, das nach dem Sonnenaufgang in kräftigen Orangetönen zu leuchten beginnt: Freiheit pur und ohrenbetäubende Stille. Der Wind hat wundersame Wellen in den Sand geweht. Rätselhafte Tierspuren zeugen von Leben. Wir wagen es kaum, diese Naturschönheit zu betreten. Die Wüste als einsame Seelenlandschaft, in der wir uns gemeinsam verlieren.
Andere Touristen? In Mauretanien: eine Handvoll in 17 Tagen. An der Kommunikation hapert es entsprechend häufig, weder auf Französisch (ehemals Kolonie) noch Englisch mag sie so recht klappen. Da hilft der Google-Übersetzer ins Arabische (falls wir nicht auf Analphabeten treffen und Empfang haben) weiter, auch mit Händen und Füßen geht's begrenzt, aber ganz gut. Hier existiert keinerlei touristische Infrastruktur. Es fordert permanent heraus, den richtigen Minibus oder Pickup zum nächsten Ziel zu finden und zugleich mit unvorhersehbaren Wartezeiten bis zur Abfahrt zu rechnen. Dass es in diesem »Islamischen Staat« nirgends Alkohol gibt (per Gesetz streng verboten, bei der Einreise wurden unsere Rucksäcke sorgfältig kontrolliert) überrascht niemanden – leider gilt das auch für Kaffeebohnen. Hier serviert man ausschließlich Instantkaffee. Wir leiden unter Bohnen-Entzug. Linderung verschafft uns unser »Erste-Hilfe-Teebeutel-Sortiment«, also eine bunte, von zuhause mitgebrachte Mischung. Der allgegenwärtige mauretanische Tee bleibt für uns ungenießbar, weil er nur stark gezuckert, vorab in großen Kannen zubereitet, angeboten wird. Einmal kosten allerdings gehört sich unbedingt.
Wir gesellen uns zu einer Runde einheimischer Männer, die im Kreis auf dem Boden sitzen und uns herbeiwinken. Tee zubereiten heißt feiern. Morgens – mittags – abends. Es dreht sich primär um Kontaktpflege: Sich treffen, um zu plaudern, zu philosophieren, zu tratschen. Währenddessen wird der Tee mehrfach aus der Kanne auf kleine Gläser verteilt und zurück. Dadurch entstehen stetig mehr Schaum und Geschmack. Nach ungefähr 40 Minuten wird die erste von vielen Runden ausgeschenkt. Gesellige Zeitlosigkeit. Fraglose Gastfreundschaft. Wir verabschieden uns dankend und bereichert nach dem ersten Glas, auf das wir eingeladen waren.
Mit »Le train« durch die Sahara
Umgekehrt gilt: Ein Mal Sahara ist kein Mal. Im Grunde entkommt man ihr hier ohnehin kaum. Dieses Mal hat sie uns 21 Stunden lang in ihren Fängen, aber nicht zu Fuß. Wir durchqueren sie auf dem Eisenerzzug, den die Einheimischen nur »Le train«, sprich »Der Zug«, nennen. Denn es gibt keinen anderen in ganz Mauretanien. Das genügt vollauf, er gehört schließlich zu den längsten und schwersten seiner Art weltweit: mit 2 500 Metern Länge, 17 000 Tonnen Gewicht. Da findet sich leicht ein luftiges Plätzchen für uns auf einem der 200 Waggons.
Jeden Tag fährt »Le train« ein Mal von den Minen im entlegenen Zouerate im Landesinneren 700 Kilometer durch die Sahara bis zum Exporthafen nach Nouadhibou an der Atlantikküste. Diese Linie könnte man auch als Lebensader des Landes bezeichnen. Sie garantiert einen beträchtlichen Anteil des Inlandsproduktes.
Das rohstoffhaltige Erzgebirge samt seiner Tagebauwerke kann man mit bloßem Auge vom Weltall aus erkennen: als schwarzen Punkt wie ein Käfer in der Wüste. Es zählt zu den größten Minenregionen Afrikas.
Mit (nur) vier Stunden Verspätung und laut pfeifend beginnt die Reise auf unserem offenen Waggon, einer Ladefläche ohne Sitze, in bester Gesellschaft zusammen mit ein paar Einheimischen (Händlern, Hirten, Arbeitern) am frühen Nachmittag. Die drei Diesellokomotiven nehmen gemächlich Fahrt auf, es lärmt und ruckelt bei durchschnittlich 55 km/h.
Links und rechts liegen alte Gleisstücke wie lange Äste im Wüstensand. Die Bahn verschleißt Material. Alle zwei Wochen müssen Schienenteile ausgetauscht werden.
Das monotone Stampfen der Maschinen und die Monotonie der Landschaft lassen uns den beißenden Eisenerzstaub und den staubigen Saharawind vergessen, die uns zeitweise umnebeln. Mit Plastikplanen als Unterlage und Schlafsack, Schal und FFP 2-Masken (doch noch zu was gut) und in verschlissener Kleidung fühlen wir uns bestens ausgestattet für dieses ach so dreckige Paradies.
An Essen ist ebenfalls nicht zu denken. Auch nicht während der wenigen Stopps im Nirgendwo. Dafür versetzt uns der 360-Grad-Wüstenblick Tag und Nacht in Trance: Sand, gleißende Sonne, Sand, häuserlose Weite, Sand, sternenklarer Nachthimmel mit vier Sternschnuppen, Sand. Quasi eine Fahrt Erster Klasse mit »Sand all inclusive«, dabei alles kostenfrei. Auch die gefühlte Ewigkeit ist unbezahlbar.
Irgendwann stoppt der Zug letztendlich doch, endgültig. Wir klettern ziemlich eingestaubt, mit schwarz verschmierten Gesichtern, vom Waggon. Für uns endet die Fahrt hier. Das kostbare Eisenerz hingegen wird am Hafen Nouadhibous auf Container verladen, von dort nach Frankreich, China und in die USA verschifft. Der Rohstoffhunger der Industrienationen scheint unstillbar. In Mauretanien selbst existiert keine weiterverarbeitende Industrie. Es zählt bis heute zu den ärmsten Ländern der Welt.
Wiedersehen mit der Kakerlake
Gleichwohl haben wir diese Fahrt in vollen Zügen genossen. Für uns bedeutet Reisen vor allem: die Komfortzone zu verlassen. Das soll nicht heißen, dass wir uns nicht am Luxus der warmen Dusche nach diesem Wüstenritt erfreuen können. Gelandet sind wir im selben Hotelzimmer wie zu Reisebeginn. Ein kleines Stück Heimat in der Fremde.
Ach, und die Kakerlake? Immer noch tot, wie gehabt. Liegt in der Ecke auf dem Rücken, Beinchen in die Höh. Wir schlafen beruhigt ein und träumen uns in den Senegal.