Elisabeth Hölzl-Michalsky blättert durch einen Ordner. Sie hat darin neben einem Zeitungsartikel zum 100. Gründungsjahr auch ein Jahrzehnte altes Programmheft entdeckt. Es waren die Anfangszeiten nach ihrer Berufung zur Theaterdirektorin. Fast 40 Jahre liegt das zurück. Durch »Zufall« sei sie zur Schauspielerei gekommen, schreibt sie darin, gegen den Willen ihres Vaters. »Ich bin nie mehr davon losgekommen«, sagt sie heute.
Die junge Elisabeth ist auf einem Bauernhof in Bischofswiesen aufgewachsen. »Für die Landwirtschaft war ich nicht geschaffen.« Am Ende übernahm ihre Schwester den Hof. Ihre Leidenschaft fürs Singen entdeckte Elisabeth Hölzl-Michalsky als Jugendliche. Bei den in Berchtesgaden stationierten US-Amerikanern trat sie in der »Bavarian Show« auf, sang und tanzte. Es waren fröhliche Zeiten. Der Applaus war laut, es ist des Künstlers Brot. Die Abende waren bis auf den letzten Platz ausverkauft, sagt sie. Mit ihrer Schwester Marlena trat sie als Gesangsduo Hölzl auf. Die Stimmen überzeugten einen Plattenproduzenten, der einen Schallplatten-Vertrag unterbreitete. »Die Leute rissen mir die Scheiben aus der Hand«, erinnert sich die Mittsiebzigerin. Professionelle Sängerin zu werden: Dieser Traum schien für Elisabeth Hölzl-Michalsky zum Greifen nah.
Ein Theater gab es in Berchtesgaden bereits im 17. Jahrhundert. Das geht aus alten Rechnungen für die Anfertigung von Kulissen für das sogenannte »Theatrum« hervor. Dabei handelte es sich wohl um die zu dieser Zeit üblichen Mysterienspiele, meist von Klerikern und Laienbrüdern für die leseunkundige Bevölkerung aufgeführt. Anfangs waren es nur Wechselreden biblischer Personen, die sich später zu dialogreichen Stücken mit bunter Szenerie entwickelten. Spielfreudige Bauern schlüpften in die Hauptrollen, die in die oft religiöse Handlung immer mehr weltliche Szenen einflochten. »Hexen-, Räuber- und Ritterdramen« führten nach und nach zu den Gründungen der ersten Bauerntheater, heißt es in einer Aufzeichnung im Archiv des Bauerntheaters.
Bauerntheater war Zeitgeist
Das Bauerntheater in Berchtesgaden war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Institution: Franz Gritl aus Schliersee hatte es 1903/04 gegründet. Mit einem Gefolge aus Schuhplattlern, Tänzern, Musikanten und Sängern hatte er sich in Berchtesgaden niedergelassen und erste Gastauftritte absolviert. Die Künstler spielten zu Beginn nicht in einem festen Haus – das Bauerntheater als solches gab es damals noch nicht – sondern in Gasthäusern und Hotels mit eigenem Saal. Das Ensemble wurde zu Gastauftritten gerufen. 1910 hatte die Truppe ein Gastspiel in Nordamerika, reiste später in die deutschen Kolonien nach Deutsch-Ostafrika, das die heutigen Länder Tansania, Burundi und Ruanda umfasst. Während des Ersten Weltkriegs war es zur Truppenbetreuung eingesetzt und auch im Zweiten Weltkrieg führte es die Künstler an alle Fronten, vom Nordkap bis Italien, von Frankreich bis nach Russland.
Nach dem Krieg, es war das Jahr 1949, bekam die Marktgemeinde Berchtesgaden von Ludwig Ganghofers Erben das alleinige Aufführungsrecht der »Martinsklause« zugesprochen. Das Bauerntheater hatte mittlerweile einen eigenen Saal. In einer einzigen Woche lockte das für das Bauerntheater konzipierte Stück 6 000 Personen zu den täglichen Aufführungen. Volksvorstellungen im Winter für 1 Mark Eintritt brachten den Saal zum Überlaufen. Bauerntheater war nicht irgendetwas, es war Zeitgeist. Das war lange vor Elisabeth Hölzl-Michalskys Zeit.
Während sie als junges Mädchen Erfolg mit ihrem Gesang bei Heimatabenden hatte, schnupperte sie ins Schauspiel, heuerte später beim Theater an. Scham, sich öffentlich zu präsentieren, das lag Elisabeth Hölzl-Michalsky fern. Sie stand gerne im Fokus der Öffentlichkeit. Sie tut es noch heute. Hölzl-Michalsky gilt als charakterstark, entschlossen im Willen. Ihr Wort rund um die Bühne ist Gesetz. Das ist vielleicht der Grund, warum sie mit ihren jungen Schauspielkollegen per Sie bleibt. »Ich bin eine Alpha-Person«, sagt sie über sich selbst – und lächelt.
Verbindung zwischen Bühne und Publikum
Als sie vor 35 Jahren das Bauerntheater übernahm, hatte die Bühne zwölf Festangestellte und einen eigenen Regisseur. Hölzl-Michalskys vor neun Jahren verstorbener Mann, eigentlich Informatiker, baute die Kulissen, unterstützte, wo er nur konnte. Die, die das Bauerntheater besuchten, kamen nicht nur, um sich unterhalten zu lassen, sondern auch, weil sie dort ein Stück Lebensweisheit und eine kleine Welt vorfanden, der das heutige Leben so gar nicht entspricht: »Der keusche Josef«, »Die Schwindelnichte«, »Der Saisongockl« und »Der Witwentröster« heißen die Stücke heute. »Ich glaube, das ist auch der Grund, warum eine echte Verbindung von Bühne und Publikum zustande kommt«, sagt Elisabeth Hölzl-Michalsky.
Unzählige Fernsehaufzeichnungen fanden unter der Ägide Hölzl-Michalskys statt: Die Lustspiele des Bauerntheaters wurden allenthalben aufgezeichnet und in öffentlich-rechtlichen Programmen, im Bayerischen Fernsehen und auf Privatsendern ausgestrahlt. Es gab Schallplatten, auf denen man den Schuhplattlern und den Schauspielern bei ihrer Darbietung zuhören konnte. »Damals konnte man noch gutes Geld verdienen«, sagt die Theaterdirektorin. Tagtäglich fanden Aufführungen statt. Statt der einheimischen Bevölkerung kamen nun vor allem die touristischen Gäste, die das Theater mit 330 Sitzplätzen füllten.
Busweise wurden Zuschauer nach Berchtesgaden gekarrt. Gastauftritte hatten die Berchtesgadener über die Grenzen von Bayern hinaus. Über das Auswärtige Amt gab es Buchungen aus dem Oman und aus dem Königreich Bahrain. Spannende Zeiten waren das.

Schwindendes Interesse am Bauerntheater
Das Interesse am Bauerntheater schwand nicht von jetzt auf gleich: Als das Fernsehen Einzug hielt und das Freizeitangebot wuchs, blieben die Besucher immer öfter aus, sagt die Theaterdirektorin. Die Anzahl der Vorstellungen wurde weniger. Festangestellte Schauspieler hat Elisabeth Hölzl-Michalsky schon lange nicht mehr. Für die Hauptsaison plant sie mit wöchentlich zwei Vorstellungen. Es ist schwieriger geworden, Nachwuchs zu gewinnen, sagt die Direktorin. Weit nach vorne planen kann sie nicht. Das Alter lässt das nicht zu. »Noch kann ich mir problemlos meine Texte merken«, sagt Hölzl-Michalsky mit einem Grinsen.
Vor ein paar Jahren war der Brandschutz fällig. 70 Sitzplätze des Theaters mussten weichen. »Das war ein schlimmer Einschnitt«, sagt Hölzl-Michalsky. Das Gebäude gilt als baufällig. Für große Investitionen reichen die Einnahmen nicht mehr. »Solange ich meine Gagen zahlen kann, mache ich weiter«, sagt sie.
Ein Hotelier hat vor rund zehn Jahren den Festbau gekauft, in dem sich das Bauerntheater befindet. Die Theaterdirektorin darf bleiben, solange sie weitermacht. Wenn sie aufhört - was dann…? Wird die Institution Bauerntheater womöglich schließen? Die Antwort darauf kennt sie nicht.
Enkelin Marie ist 13 Jahre alt. Einmal pro Woche fährt sie nach Salzburg, lernt dort Gesang, Tanz und Theater. »Sie würde so gern mitspielen«, sagt die Oma. »Wir brauchen dafür nur noch das passende Stück.«
Kilian Pfeiffer