Lange flößte der große Greifvogel den Menschen Angst ein, ihm wurde nachgesagt, er greife Kälber, Geißen und sogar Babys an. Jäger rotteten den Bartgeier deshalb im Ostalpenraum aus. Nun soll der große, in Wahrheit aber völlig harmlose Greifvogel wieder in den Ostalpenraum zurückkehren.
»Optimale Bedingungen im Nationalpark«
Nationalparkleiter Dr. Roland Baier und sein Stellvertreter Uli Brendel freuen sich, liegt ihnen doch viel an der Wiederansiedlung des Bartgeiers im Nationalpark. Die Lebensbedingungen im Nationalpark Berchtesgaden seien, so Dr. Roland Baier, optimal. Der Vogel komplettiere die ursprüngliche Fauna des Nationalparks und bilde als Aasverwerter ein wichtiges Endglied in der Nahrungskette. »Bartgeier fressen die Knochen von toten Tieren«, erklärt Uli Brendel. Ein erwachsener Bartgeier ernährt sich großteils von Knochen, die er dank seiner starken Magensäure verdauen kann. Der Bartgeier findet im Nationalpark Berchtesgaden genügend Fallwild vor. Es kommt bei Lawinenabgängen ums Leben. Dr. Roland Baier sagt, nach der Schneeschmelze, wenn der junge Bartgeier schlüpft, sei »der Tisch für den Bartgeier im Nationalpark gedeckt«. »Er bekommt bei uns eine bleifreie Diät«, ergänzt Uli Brendel. Im Nationalpark Berchtesgaden kommt seit 2014 ausschließlich bleifreie Munition zum Einsatz. Auch die Bayerischen Staatsforsten erlauben seit April nur noch bleifreie Munition, um vor allem Greifvögel davor zu schützen, bleihaltige Kadaver zu fressen und daran qualvoll zu sterben.
Die Vorzeichen stehen also gut, dass der Bartgeier erneut auch im Ostalpenraum heimisch wird. Zwar wird der Greifvogel bereits seit 1986 in den Alpen ausgewildert. In den Ostalpen läuft die Wiederbesiedlung allerdings schleppend. Ziel ist es aber, eine Brücke von den Pyrenäen über die Alpen und den Balkan bis zu den Vorkommen in der Türkei zu schlagen. »Bis 2030 sollen bei uns Bartgeier ausgewildert werden«, erklärt Dr. Roland Baier. »Am Ende des Projektes sollen sie sich selbstständig fortpflanzen«, erklärt Uli Brendel. Dazu brauche es einen gewissen Bestand.
Mit den beiden aus dem andalusischen Zuchtzentrum zugewiesenen Bartgeierküken erhöht sich der Bestand um zwei weitere Vögel. Die Jungen sind aktuell noch bei ihren Eltern Elías und Viola in der Aufzuchtstation. »Erst 90 Tage nach der Geburt sind sie selbstständig, können dann problemlos von den Eltern entfernt werden«, erklärt Uli Brendel.
Wenn es so weit ist, werden die Küken erst einmal in den Tiergarten Nürnberg gebracht, wo zur späteren Wiedererkennung die Federn gebleicht und die Sender, die kurz vor der Auswilderung angebracht werden, angepasst werden. Drei Tage dauere die Fahrt von Andalusien nach Nürnberg, berichtet Bartgeier-Experte Toni Wegscheider vom Landesbund für Vogelschutz (LBV). »Die Tiere sind gut versorgt«, beruhigt er.
Vertreter des Tiergartens Nürnberg fahren die Bartgeier dann nach Ramsau, wo sie zunächst am Fuße des Knittelhorns in derselben Nische, die Wally und Bavaria im vergangenen Jahr bewohnt haben, unterkommen.
»Auswilderungbis ins Detail geplant«
Kurz bevor die Jungen freigelassen werden, stattet sie eine eigens aus der Schweiz angereiste Spezialistin mit den Sendern, die die Bartgeier laut Uli Brendel gar nicht bemerken, aus. »Die Auswilderung ist bis ins Detail geplant«, erklärt der stellvertretende Nationalparkleiter. Die erste Zeit in der Wildnis begleiten Ranger des Nationalparks und Mitarbeiter des LBV die beiden. Sie legen Futter für die Bartgeier aus. »Das dürfen die Geier nicht mitbekommen«, erklärt Uli Brendel. Das Futter dürften sie nicht mit dem Menschen in Verbindung setzen.
Etwa einen Monat nach der Auswilderung unternehmen die Bartgeier wahrscheinlich ihren Erstflug, weiß Toni Wegscheider. »Sie werden zunächst die nähere Umgebung im Bereich des Königssees und der Reiteralm erkunden.« Erst nach etwa vier Monaten gehe der Bartgeier auf Reisen. »In der Regel ist ein junger Bartgeier fünf bis acht Jahre unterwegs«, sagt Uli Brendel. Dann komme er in die Region zurück, in der er ausgewildert worden ist. »Zwei Drittel der Bartgeier werden heimisch zum Brüten«, erklärt er.
Der Greifvogel mit einer Flügelspannweite von über 2,6 Metern, einer Körperlänge von 94 bis 125 Zentimetern und einem Gewicht von 4,5 bis 7 Kilogramm wird 40 bis 50 Jahre alt. Das Weibchen bekommt etwa alle zwei bis drei Jahre Junge. Ihren Partner suche es sich meist bei seinen Erkundungsflügen. Es finden sich Paare aus dem gesamten Alpenraum zusammen. Die Verwandtschaft der jungen Bartgeier zu Wally und Bavaria hat daher, laut Toni Wegscheider, keinen negativen Einfluss auf die Genetik der Bartgeierpopulation im Alpenraum.
Ob es sich bei den beiden im März geschlüpften Bartgeiern um Weibchen oder Männchen handelt, steht übrigens noch nicht fest. Das Geschlecht kann, laut Toni Wegscheider, erst einige Wochen nach der Geburt per Genprobe festgestellt werden. »Den Jungen ist vor Kurzem Blut abgenommen worden«, berichtet der LBV-Experte. »Wir warten schon gespannt auf das Ergebnis.«
Die beiden Bartgeier mit den Zuchtnamen BG 1145 und BG 1147 würden in der Zuchtstation zunächst Lizzie und Vitale gerufen. Die vorläufigen Namen gehen auf die Fotografinnen Lizzie Daly und Ami Vitale zurück. Alle Küken aus dem aktuellen Jahr werden vorläufig nach Fotografen, die sich für den Schutz von Natur und Umwelt einsetzen, benannt.
Wenn das Geschlecht von BG 1145 und BG 1147 feststeht, beginnt die Namenssuche für die beiden Tiere. Für eines der beiden Tiere werden die »Anzeiger«-Leser Namensvorschläge abgeben können. Eine Jury aus Vertretern der Nationalparkverwaltung, des Vereins der Freunde des Nationalparks und des »Berchtesgadener Anzeigers« trifft dann die endgültige Entscheidung. Den Namen des anderen Bartgeiers bestimmt der LBV. Mehr darüber in Kürze.
Lisa Schuhegger