Der »Berchtesgadener Anzeiger« beschrieb damals ausführlich, was sich nahe des Wimbachtals zugetragen hatte (Anm. d. Red.: Die damalige Rechtschreibung wird beibehalten). In der Wochenendausgabe vom 11./12. November 1922 lassen sich unter »Lokales« die Geschehnisse eines »Wildererdramas«, so die Überschrift, nachlesen.
Schießerei mit zwei Forstbeamten
Das Forstamt Ramsau informierte die Zeitung damals über die Geschehnisse, die sich am Mittwochnachmittag im Wimbachtal in der Nähe der Stubenalpe zutrugen. Zwei Forstbeamte hörten »gegen 2 Uhr« bei einem Dienstgang »7 Schüsse«. Nach längerem Suchen fanden die Beamten »2 Wilderer, die sich durch falsche Bärte und Zipfelhauben unkenntlich zu machen versucht hatten« und die beide Gewehre bei sich trugen.
Nach Darstellung des Forstamts legten die Wilderer auf die Beamten an und es kam zu einer Schießerei, bei der »einer der Männer tödlich verletzt wurde, der zweite entkam unerkannt«. Der Tote wird als »der 24-jährige Bauernsohn Christian Fendt vom Wasserer in Bischofswiesen« benannt.
In der Erstmeldung heißt es zudem, dass der Forstbeamte, der »den unglücklichen Schuss abgab«, in Notwehr handelte. Der Fall hat seinerzeit für einige Aufregung gesorgt, denn im »Berchtesgadener Anzeiger« heißt es weiter, dass »erklärlicherweise die Gemüter der Bevölkerung stark erregt« waren, und das »auch zu manchem unsinnigem Gerede Anlaß gegeben hat«.
Das Opfer wird als »ruhiger, arbeitsamer Mann« beschrieben, der sich »in den Kreisen seiner Kameraden großer Beliebtheit erfreute« und als Soldat am Weltkrieg teilgenommen hatte. Die Zeitung berichtet außerdem, dass der Leichnam von Christian Fendt noch in der Nacht auf Donnerstag (9. November 1922) von Freunden und Familienangehörigen in das elterliche Haus nach Bischofswiesen gebracht wurde.

Womöglich hatte der »Berchtesgadener Anzeiger« damals noch weitere Informationen, worauf man aus dem letzten Satz der Meldung schließen könnte: »Bevor die gerichtliche Untersuchung über den ganzen Fall nicht abgeschlossen ist, erscheint es unzweckmäßig, auf weitere Einzelheiten des bedauerlichen Falles einzugehen.«
Tatsächlich findet sich in derselben Ausgabe schon eine Anzeige, die die Beerdigung ankündigt: »Die Beerdigung des Herrn Christian Fendt, Wassererlehen, Bischofswiesen, findet am Sonntag, den 12. ds. Mts., vormittags halb 8 Uhr auf dem Friedhof in Berchtesgaden statt.« Und da war der Andrang groß, wie der »Berchtesgadener Anzeiger« am Montag, 13. November 1922, unter der Überschrift »Beerdigung Fendt=Wasserer« bereits berichtet, nämlich von »außerordentlich starker Teilnahme, besonders der Landbevölkerung«.
Bemerkenswert ist die Information, die auf Ersuchen der Angehörigen von Christian Fendt veröffentlicht wurde und den »Mitteilungen des Forstamtes Ramsau« deutlich widerspricht. Denn es wird festgestellt, »daß der Forstpraktikant Geiger, der den tödlichen Schuss abgegeben hatte, nicht in Notwehr gehandelt habe, da Fendt seinerseits nicht geschossen habe«.
Gericht untersucht den Todesfall
Das Geschehen muss zumindest für Zweifel gesorgt haben, denn die Behörden haben sich der Sache angenommen, wie der »Berchtesgadener Anzeiger« ebenfalls hinweist: »Volle Klarheit in den Fall muss die im Gange befindliche gerichtliche Untersuchung bringen, deren Resultat unbedingt abgewartet werden muss.«
Deutlich ist die Dank-Anzeige, die die »trostlose Mutter« des Toten »in ihrem herben Schmerze« nach der Beerdigung in der Zeitungsausgabe vom Wochenende 18./19. November 1922 veröffentlichen ließ. Die Anteilnahme muss tatsächlich riesig gewesen sein, viele Vereine sind namentlich genannt, Arbeitskollegen, Freunde und Bekannte der Familie. Besonders hervorgehoben ist »Franz Angerer vom Salzberg für die kernigen, jedoch richtig getroffenen Worte am Grabe«. Was da gesagt worden ist, darauf findet sich ein Hinweis in dem Buch von Dr. Conrad Adlmaier »Wilderer und Jäger im Hochgebirg«, das 1935 erschien. Hier heißt es: »Bei der Beerdigung des Wilderers, die durch die ungeheure Beteiligung ›über tausend Meter lang war‹, ereignete sich ein Zwischenfall, indem ein gewisser A. von Salzberg am offenen Grab den Ausdruck ›Mörder‹ gebrauchte, wofür er drei Wochen Gefängnis erhielt.«
Dr. Adlmaier berichtet außerdem in einer weiteren Schilderung, wie sehr die Volksseele kochte: »Vor dem Forstamt Berchtesgaden (das gar nicht zuständig war, D. Verf.), rotteten sich bald nach Bekanntwerden des Todes vom ›Wassererchristl‹ Leute zusammen und verlangten, daß der Forstmeister Hauber beim Fenster heruntergeworfen werden solle. Der Forstmeister empfing aber kaltblütig eine Deputation der aufgeregten Menge, machte den Leuten klar, daß sie nicht nur an die falsche Adresse gekommen wären, sondern das der Jäger in Notwehr gehandelt habe, worauf die ›Demonstration‹ beendet war.«
Im »Berchtesgadener Anzeiger« verliert sich nach der Beerdigung zunächst die Spur dieses Kriminalfalls, bis in den April 1923 ist in der Zeitung nichts mehr zu erfahren zu den angekündigten Ermittlungen. Am 3. April 1923 allerdings gab es eine Verhandlung am Amtsgericht Berchtesgaden gegen den »Postschaffner a.D. Franz Springl«. Dieser hatte sich laut Anklage im November 1922 – also unmittelbar nach dem Drama – in einer Gastwirtschaft in Bischofswiesen »in Bezug auf die Tötung des Bauernsohnes Christian Fendt« mit »beleidigenden Äußerungen gegen das Forstschutzpersonal der Forstämter Ramsau, Bischofswiesen und Berchtesgaden« hervorgetan. Und er hatte sogar »gegen den Oberforstmeister Hilpoltsteiner in Ramsau in Beziehung auf seinen Dienst beleidigende, unwahre Behauptungen« aufgestellt.
Man darf davon ausgehen, dass der Angeklagte Springl wohl eher auf der Seite der Wilderer stand – die genießen trotz ihrer nicht gesetzeskonformen Leidenschaft in Bayern schon von jeher großes Ansehen in der Bevölkerung und gelten als »wuide Hund«.
Jedenfalls wurde der Postschaffner a.D. schuldig gesprochen der Beleidigung und der üblen Nachrede und »kostenpflichtig zu einer Gesamtgefängnisstrafe von einer Woche« verurteilt. Damit nicht genug, wurde dem Beleidigten, Oberforstmeister Hilpoltsteiner, das Recht zugestanden, den Inhalt des Urteils nach Rechtskraft im »Berchtesgadener Anzeiger« per Inserat bekannt zu geben.
Beleidigungsklage: Forstbeamten angespuckt
Und noch ein weiteres Mal taucht einer der Forstbeamten im Zusammenhang mit einer Gerichtsverhandlung auf: In der Ausgabe vom Montag, 22. Oktober 1923, berichtet der »Berchtesgadener Anzeiger« über eine Verhandlung am Schöffengericht Berchtesgaden gegen den »Zementarbeiter Michael Ilsanker von Stanggaß«. Der wurde beschuldigt, den »Forstdienstaspiranten Max Geiger, früher in Ramsau, durch Anspucken beleidigt zu haben«.
Es ist also eben jener Max Geiger, der ein Jahr zuvor den tödlichen Schuss auf Christian Fendt abgegeben hatte. Die näheren Umstände der recht handfesten Beleidigung gehen aus dem Gerichtsbericht nicht hervor. Der Verdacht liegt aber zumindest nahe, dass das Wilderer-Drama beim Zementarbeiter Ilsanker noch nicht vergessen war. Der wurde tatsächlich schuldig gesprochen von dem Schöffengericht und »kostenpflichtig zu einer Gefängnisstrafe von 14 Tagen verurteilt«. Allerdings wurde ihm eine Bewährungsfrist bewilligt, »daß er innerhalb drei Tagen nach Rechtskraft des Urteils eine Buße von hundert Millionen Mark bezahlt«. Die Summe ist deswegen so exorbitant hoch, da sich Deutschland damals mitten in der Wirtschaftskrise befand.

Ein weiterer Hinweis auf Max Geiger findet sich zudem im Buch »Berchtesgaden im Wandel der Zeit«, dessen Erstauflage von 1929 als Reprint im Jahr 1973 vom Verlag »Berchtesgadener Anzeiger« herausgegeben wurde. Unter dem Punkt »Wildern« ist neben vielen Erklärungen und historischen Begebenheiten auch der tödliche Zusammenstoß in der Ramsau genannt, wenn auch mit falschem Datum: »Christ. Fendt, Bauernsohn vom Wassererlehen in Bischofswiesen, wurde von Jäger Geiger unterhalb der Stubenalmen (Watzmann) am 23. V. 1924 erschossen. An der Tatstelle wurde ein Marterl angebracht.« Das Datum ist um so bemerkenswerter, da es komplett falsch ist, sogar zwei Jahre später, auf dem Gedenkstein aber das richtige vermerkt ist.
In einem anderen Buch, »Ludwig Eder: Der Marterlmaler vom Königssee«, mit einer Sammlung von Texten von Dr. Josef Maidl (Plenk Verlag Berchtesgaden, 1. Auflage, 2001) erfährt man »aus mündlichen Überlieferungen« mehr zu der Schießerei auf der Stubenalm. Demnach war es der »Jagdeleve« (also Max Geiger), der Christian Fendt auf dem Gewissen hat: »Der Jäger rief dem Eleven zu, er solle schießen. Dieser zielte auf die Füße des Flüchtenden, der sich zusammenkrümmte und in einer Mulde Deckung suchte. Die Schüsse des aufgeregten Jagdschülers trafen Christian Fendt in die Brust und er verstarb an Ort und Stelle. Die beiden Jäger ließen den Toten liege, wohl in der Absicht, ihn später zu bergen. Aber ein guter Freund des Erschossenen fand ihn noch am gleichen Tag und trug ihn hinunter nach Ramsau. Von dort brachte er ihn nachts mit einem Fuhrwerk zum Wassererlehen nach Bischofswiesen. Die Leiche legte er dort auf die Hausbank. Erst am Morgen fanden die Angehörigen den Toten.«
Das Marterl, das von der Tat zeugte, war auf der Stubenalm lange nicht mehr zu sehen. Die Familie Fendt hat es restaurieren lassen. Leider sind auch bei den Nachkommen keine Erkenntnisse überliefert, wie die Untersuchung damals ausgegangen ist. Eine Anfrage der Lokalzeitung beim Amtsgericht Laufen war ebenfalls nicht erfolgreich, dort gibt es keine Unterlagen mehr aus der Zeit von vor 1943.
Beim Forstbetrieb Berchtesgaden ist Büroleiter Franz Graßl zumindest teilweise fündig geworden. Dort gibt es noch ein Schreiben vom 8. Januar 1923 an die Regierung von Oberbayern über die Auswüchse der Wilderei; und auch der Fall Fendt kommt vor. Der Verfasser beklagt, dass sich »die Erregung der Bevölkerung« nicht gelegt hätte und nach wie vor eine »Parteinahme für den Erschossenen und seine Angehörigen« feststellbar ist.
Zusätzliche Polizei musste für Ordnung sorgen
Dem Schreiben ist weiter zu entnehmen, dass nach dem Vorfall »die Abstellung eines Kommandos der Landespolizei nach Königssee und nach Bischofswiesen die allgemeine Gereiztheit wirksam gedämpft« hatte, allerdings wurden die Beamten überraschend wieder abgezogen. Der Verfasser befürchtet, dass die »notdürftig hergestellte Sicherheit und Behördenautorität« wieder ins Wanken geraten könnte. Dafür gab es einen konkreten Anlass: »Zumal gerade jetzt die gerichtliche Austragung der mit dem Wildererfalle verbundenen Anklagen bevorsteht.« Allerdings gibt das Archiv des Forstbetriebs Berchtesgaden keine weiteren Erkenntnisse preis, was damals vor Gericht verhandelt wurde. Auch im Bayerischen Staatsarchiv blieb eine Nachfrage ergebnislos. Nachdem aber die letzte Beleidigungsklage erst lange nach der Verhandlung stattfand, wurden die Forstbeamten wohl frei gesprochen.
Die Wahrheit haben die Beteiligten mit ins Grab genommen.
Thomas Jander


