Wo treffen sich Ü75er am häufigsten? Richtig: in Wartezimmern und auf Beerdigungen. So war es nicht sonderlich überraschend, dass ich unlängst auf einem Friedhof kurz vor einer Bestattung einen ehemaligen Mitarbeiter sah, nämlich den Degen-Simmei aus Ilsank. Er hat seit Beginn seiner Lehre 1944 insgesamt 43 Jahre ununterbrochen in unserer Baufirma gearbeitet, davon viele Jahre als Polier, mittlerweile ist er im 97. Lebensjahr. Er hat mich sofort auf den Bericht über den Ladenbau am Franziskanerplatz angesprochen, der in der Reihe »Berchtesgaden damals und heute« vor Kurzem im »Berchtesgadener Anzeiger« stand, »weil da war ich von Anfang bis Ende dabei«.
In dem Artikel hatte ich beschrieben, wie der Franziskanerplatz im Sommer 1950 sein Gesicht durch den Bau einer Ladenzeile vor dem Solekurbad verändert hat. Beteiligt war dabei unter anderem die Baufirma meines Vaters und – wie ich nun erfuhr – auch der Degen-Simmei. Dreckig, staubig und sehr heiß sei es damals gewesen. Und enorm anstrengend, schließlich musste der benötigte Beton selbst angemischt und das gesamte abgesprengte Gestein von Hand verladen werden. »Und beim Sprengen sind die Steine teilweise bis zur Franziskanerkirche geflogen. Dann müssen wir halt beim nächsten Sprengen mehr Daxer für das Verdämmen der Bohrlöcher nehmen, haben wir gesagt.«
Nun drängte ich ihn sanft etwas von der Aussegnungshalle weg, wo bereits mehrere Trauergäste warteten; er musste nämlich herzhaft lachen, wenn er von den damaligen Umständen erzählte, die immerhin 75 Jahre zurückliegen. Auch war es der gebotenen Stille an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt nicht gerade zuträglich, dass wir beide etwas schwerhörig sind. »Wenn man heutzutage so sprengen würde wie damals, würde die Baustelle sofort eingestellt. Und dann die Sache mit den Flitscherln!« Ich schob ihn noch weiter von den Trauergästen weg und fragte leise: »Was war denn mit denen?«
Immer wieder von Lachen unterbrochen erfuhr ich Folgendes: Im Hotel »Deutsches Haus«, das damals von den Amerikanern genutzt wurde, waren einige junge Frauen beschäftigt, die eines Tages einen Spaziergang zum Franziskanerplatz machten und bei den Bauarbeiten zusahen. Den Bauarbeitern fiel allerdings nichts Besseres ein, als die Mädchen aus der Deckung heraus mit Steinchen zu bewerfen. Nur kurze Zeit später tauchte die MP (Military Police) an der Baustelle auf und nahm ausnahmslos alle dort angetroffenen Arbeiter mit. Nur den Simmei nicht, weil er zu diesem Zeitpunkt unterwegs war, um mit einem Gadl (= zweirädriger Handkarren) Material zu holen.
Er fand sich, als er zurückkam, auf einer menschenleeren Baustelle wieder. Unter Zuhilfenahme von Schlagstöcken wurden die Festgenommenen ausgiebig verhört und letzten Endes musste mein Vater zur MP kommen, um seine Arbeiter dort wieder »auszulösen«. Umso erstaunlicher, dass trotz dieser unfreiwilligen Unterbrechung die Schnelligkeit der Bauarbeiten auf dem Firstbier (=Hebefeier) besonders gelobt wurde.