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Alles noch in Ordnung (v.l.): Helena May Heber in der Rolle der Veronique Houillé, Lorenz Brandner als Alain Reille, Simon Bauer spielt Michel Houillé und Helena Sucker die Annette Reille. (Fotos: Dieter Meister)

Marktbühne spielt »Der Gott des Gemetzels« von Yasmina Reza im Berchtesgadener Pfarrheim

Berchtesgaden – Es wird geweint, gelacht, gestritten, gebrüllt, ein wenig gesoffen und mitunter sogar gekotzt – also sind fast alle Aspekte für einen gelungenen Kennenlernabend gegeben. Ein hoch motiviertes Quartett der Marktbühne glänzt im preisgekrönten Stück der französischen Autorin Yasmina Reza im Pfarrheim Berchtesgaden.


Der Inhalt ist eigentlich banal. Zwei Ehepaare treffen sich, um die »Missetat« des einen Sohnes am Sprössling der Anderen aus der Welt zu schaffen., sprich, die Kinder, die gemeinsam zur Schule gehen, wieder zu versöhnen und Frieden herzustellen. Bald aber geht es nicht mehr um die Kinder. Es wird provoziert, beleidigt, gedemütigt. Gelegentlich verschieben sich die Fronten, werden abstruse und irrationale Sichtweisen wie schlimme Keile getrieben. Die Inszenierung von Martin Klocke zeigt auch, wie kleine Probleme zu einer Mauer von Missverständnissen, Selbstgefälligkeit und sogar Hass aufgeschichtet werden können, beschert dem Publikum aber einen zwar nachdenklich machenden, aber durchaus auch vergnüglichen Abend aus der Spanner-Perspektive.

Am Anfang scheint alles normal, in geordneten Bahnen. Ein Ehepaar ist zu Besuch bei einem anderen, um einen handfesten Konflikt ihrer Kinder zu bereinigen. Dem Sohn der Gastgeber wurden zwei Schneidezähne lädiert, ein Nerv teilweise freigelegt. Das ist zwar nicht unbedingt eine Bagatelle, regelt sich allerdings oft von selbst, vielleicht auch mithilfe des Zahnmediziners. Veronique und Michel Houillé, die Eltern des malträtierten Sohnes, empfangen Annette und Alain Reille, die Eltern des »Täters«, um ein Unfallprotokoll auf den Weg zu bringen und über Schuld und Sühne zu diskutieren.

Annette und Alain geben sich anfangs reumütig, Veronique und Michel bewirten die Gäste und geben zu verstehen, dass sie an einer friedlichen, für alle akzeptablen Regelung interessiert sind. Aber es währt nicht lange, bis das »Verbrechen« in den Hintergrund rückt und der Ton rauer und das Gespräch stetig unterbrochen wird vom Telefon des Anwalts Alain Reille, der für einen Pharmakonzern arbeitet und dubiose Anweisungen gibt, um einen Skandal zu vertuschen. Es dauert nicht lange, dann treten »die Leichen im jeweils separaten Keller« der Quartettmitglieder ans Licht und das einst mit (möglicherweise) besten Absichten begonnene Gespräch eskaliert, nimmt groteske Formen an, rutscht ab in bösartige Albernheiten, bekommt teilweise aggressive Züge. Die Fronten verschieben sich manchmal. Nicht immer geht es um Paar gegen Paar, mal wechseln die Fronten von Männer gegen Frauen, Leidenschaft gegen Ignoranz. Die Skala ist weit gefasst.

Dann kommt noch edler Rum dazu, dem die Frauen eifriger zusprechen als ihre jeweiligen Gatten. Am Ende sind alle unglücklich, der Kunstband stinkt nach Parfüm, weil man das über ihn von Annette ausgebreitete Erbrochene »neutralisieren« wollte, das Handy des Anwalts liegt im Wasser der Tulpenvase und alle sind mehr oder weniger am Boden, symbolisch bestimmt und auch, weil der in Wut verschütte Inhalt von Annettes Handtasche aufgeklaubt werden muss. Zurück bleibt das Chaos. Im Wohnzimmer und in den Seelen.

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Fast alles im Eimer. Das Ehepaar Reille (Helena Sucker und Lorenz Brandner) kurz vor der finalen Katastrophe.

Martin Klockes Regie setzt auf Genauigkeit in der Zeichnung der Personen, er kommt ohne übermäßiges Gebrüll aus, lässt Verfremdung nur in kleinen Dosen zu und hält die Zügel stramm, wenn es, wie es der Text durchaus zuließe, emotional leicht ins Absurde trudeln könnte. Und er hat ein Quartett, das ihm, so hat es zumindest den Anschein, willig folgt bei einer Inszenierung, die dicht am »realen Leben« bleiben will.

Helena May Heber in der Rolle der Veronique Houillé brilliert in einem variantenreichen Spiel als etwas links stehende, sozial arg engagierte »Bildungsbürgerin«, die oft kämpferisch längst verödete Werte verteidigen will, sich immer wieder in Rage bringt, in einem steten Wechselbad der Gefühle zu schwimmen scheint und das eindrucksvoll zu zeigen zumindest zeitweilig in der Lage ist. Helena May Heber zeichnet auch für das Bühnenbild, das eine rustikale Eleganz ausstrahlt, verantwortlich. Simon Bauer gibt glaubwürdig ihren Gatten Michel, mal in einer gewissen Unterwürfigkeit, dann wieder aufmüpfig, ein desillusionierter Mann, der an Minderwertigkeitskomplexen zu leiden scheint im Duell mit seinem Widerpart, dem sich souverän und alles im Griff habend gebenden Winkeladvokaten Alain. Michel Houillé ist scheinbar alles gleichgültig, seine Ehe, sein Dasein als Haushaltswarenvertreter. Wenn er Ideale gehabt haben sollte, sind sie längst abwesend. Auch Simon Bauer hat eine Doppelfunktion. Gemeinsam mit Florian Schwerer sorgt er für die Technik.

Das eigentlich von der »Schandtat« ihres Sprösslings betroffen sein sollende Ehepaar Reille wird von Helena Sucker und Lorenz Brandner dargestellt. Letzterer gibt den in scheinbarer Überlegenheit schwelgenden eigentlichen »Drahtzieher« des merkwürdigen Abends mutig als perfekten, arroganten Kotzbrocken, dem seine schauspielerische Leistung wichtiger scheint als die Sympathiewerte, die ihm das Publikum möglicherweise zugestehen würde. Seine Gattin, eine gelegentlich ebenfalls Überlegenheit signalisierende Finanzberaterin, die alles außer ihrem Mageninhalt fest im Griff zu haben scheint. Auch Helena Sucker kann ihrer Rolle hin und wieder Leuchtpunkte aufsetzen.

Ein kleines und durchaus feines Ensemble also, das in der jeweiligen Rolle fast durchweg glänzen kann und das gut zusammenpasst, um eineinhalb Stunden tragikomisches, manchmal ein wenig absurdes Theater an ein (hoffentlich) nachdenkliches und gelegentlich amüsiertes Publikum über die Rampe zu bringen. Es wird geweint, gelacht, gestritten, gebrüllt. Ein wenig gesoffen und mitunter sogar gekotzt – kurz, fast alle Aspekte für einen gelungenen Kennlernabend sind gegeben.

Erleben kann man dies im Selbstversuch zuerst heute Abend um 20 Uhr im Berchtesgadener Pfarrheim. Weitere Gelegenheiten sind für den 20. bis 22. August sowie am 24., 26. und 28. August jeweils zur genannten Uhrzeit geplant.

Dieter Meister

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